omanlesen
Das Romanlesen hat, außer manchen anderen Verstimmungen des
Gemüts, auch dieses zur Folge, daß es die Zerstreuung habituell macht. Denn
ob es gleich, durch Zeichnung von Charakteren, die sich wirklich unter Menschen
auffinden lassen (wenn gleich mit einiger Übertreibung), den Gedanken einen
Zusammenhang als in einer wahren Geschichte gibt, deren Vortrag immer
auf gewisse Weise systematisch sein muß, so erlaubt es doch zugleich
dem Gemüt, während dem Lesen Abschweifungen (nämlich noch andere Begebenheiten
als Erdichtungen) mit einzuschieben, und der Gedankengang wird fragmentarisch,
so daß man die Vorstellungen eines und desselben Objekts zerstreut (sparsim),
nicht verbunden (coniunctim) nach Verstandeseinheit im Gemüte spielen läßt.
Der Lehrer von der Kanzel, oder im akademischen Hörsaal, oder auch der Gerichtsankläger
oder Advokat, wenn er im freien Vortrage (aus dem Stegreif), allenfalls auch
im Erzählen, Gemütsfassung beweisen soll, muß drei Aufmerksamkeiten3 beweisen:
erstlich des Sehens auf das, was er jetzt sagt, um es klar vorzustellen;
zweitens des Zurücksehens auf das, was er gesagt hat, und dann drittens
des Vorhersehens auf das, was er eben nun sagen will. Denn unterläßt
er die Aufmerksamkeit auf eines dieser drei Stücke, nämlich sie in dieser Ordnung
zusammenzustellen, so bringt er sich selbst und seinen Zuhörer oder Leser in
Zerstreuung, und ein sonst guter Kopf kann doch nicht von sich ablehnen, ein
konfuser zu heißen. - Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht (zuerst 1798/1800)
|
||
|
|
|