Ritornell  I. Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos. Es kann sein, daß das Kind springt, während es singt, daß es schneller oder langsamer läuft; aber das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen. Der Ariadnefaden erzeugt immer Klänge. Oder Orpheus singt.

II. Jetzt ist man indes daheim. Aber dieses Zuhause war nicht von vornherein da: erst mußte ein Kreis um das labile und unbestimmte Zentrum gezogen, ein abgegrenzter Bereich geschaffen werden. Viele verschiedene Komponenten, Bezugspunkte und Markierungen haben dabei mitgewirkt. Das galt bereits für den vorherigen Fall. Aber jetzt werden die Komponenten zur Organisation eines Raumes und nicht mehr nur zur vorübergehenden Festlegung eines Zentrums benutzt. Die Kräfte des Chaos werden, soweit wie möglich, draußen gehalten, und der Innenraum schützt die Kräfte, die in ihm aufkeimen, um eine Aufgabe zu erfüllen oder ein Werk zu schaffen. Hier setzt die ganze Aktivität des Selektierens, Eliminierens und Extrahierens ein, damit die geheimen irdischen Kräfte, die der Erde innewohnenden Kräfte, nicht überschwemmt werden, damit sie widerstehen können oder durch die Filter oder Siebe des abgesteckten Raumes sogar etwas vom Chaos einfangen können. Dabei sind vokale oder klangliche Komponenten sehr wichtig: eine Klangmauer, oder jedenfalls eine Mauer, in der bestimmte Steine mitschwingen. Ein Kind summt leise vor sich hin, um Kräfte für die Schularbeiten zu sammeln. Eine Hausfrau singt vor sich hin oder macht das Radio an, während sie gleichzeitig die gegen das Chaos gerichteten Kräfte für ihre Arbeit aufbaut. Radio-und Fernsehgeräte sind eine Art von Klangmauer für jeden Haushalt und stecken Territorien ab (der Nachbar beschwert sich, wenn es zu laut ist). Für kompliziertere Arbeiten wie die Gründung einer Stadt oder die Herstellung eines Golems zieht man einen Kreis, oder besser, man geht wie beim Ringelreihen der Kinder im Kreis herum, man kombiniert rhythmisierte Konsonanten und Vokale, die sowohl den inneren Kräften der Schöpfung wie den unterschiedlichen Teilen eines Organismus entsprechen. Ein Fehler in der Geschwindigkeit, im Rhythmus oder in der Harmonie wäre eine Katastrophe, denn er würde den Schöpfer und die Schöpfung zerstören, indem er die Kräfte des Chaos wieder eindringen ließe.

III. Jetzt öffnet man den Kreis ein wenig, man Öffnet ihn ganz, läßt jemanden eintreten, ruft nach jemandem oder tritt sogar selber aus dem Kreis heraus, stürzt nach außen. Allerdings wird der Kreis nicht dort geöffnet, wo die alten Kräfte des Chaos andrängen, sondern an einer anderen Stelle, die vom Kreis selber geschaffen wird. Es ist so, als ob der Kreis selber dazu neigte, sich einer Zukunft zu öffnen — und zwar von Kräften ausgehend, die in ihm wirksam sind und die er in sich birgt. Und diesmal geschieht das, um sich mit den Kräften der Zukunft, mit kosmischen Kräften zu vereinen. Man bricht aus, wagt eine Improvisation. Aber improvisieren bedeutet, sich mit der Welt zu verbinden und zu vermischen. Am Leitfaden eines Liedchens geht man aus dem Haus. Auf den motorischen, gestischen oder klanglichen Linien, die den gewohnten Weg eines Kindes markieren, sprießen oder knospen "Irr-Linien" mit Windungen, Verknotungen, Geschwindigkeiten, Bewegungen, Gebärden und verschiedenen Klängen.

Das sind nicht drei aufeinanderfolgende Stufen einer Evolutionsgeschichte, sondern drei Aspekte ein und derselben Sache, nämlich des Ritornells. Man findet sie in Erzählungen, Horrorgeschichten, Märchen, und auch in Liedern. Das Ritornell enthält diese drei Aspekte, es macht sie simultan oder vermischt sie: mal so, mal so, mal so. Mal ist das Chaos ein riesiges schwarzes Loch und man versucht, einem labilen Punkt in ihm als Zentrum zu fixieren. Mal organisiert man um das Zentrum eine ruhige und in sich gefestigte "Haltung" (weniger eine Form): das schwarze Loch ist ein Zuhause geworden. Mal erweitert man diese Haltung um eine Fluchtbewegung, heraus aus dem schwarzen Loch. Paul Klee hat diese drei Aspekte und ihre Verbindung grundlegend dargestellt. Als Maler sagt er "Graupunkt" und nicht schwarzes Loch. Dieser graue Punkt ist zunächst das nicht lokalisierbare, dimensionslose Chaos, die Kraft des Chaos, ein wirres Bündel durcheinander geratener Linien. Dann springt der Punkt "über sich selbst hinaus" und läßt einen Raum voller Dimensionen aufstrahlen, mit seinen horizontalen Schichten und vertikalen Schnitten, seinen gewöhnlichen, nicht-geschriebenen Linien, eine regelrechte innerirdische Kraft (diese Kraft kommt in gelösterer Weise auch in der Atmosphäre oder im Wasser vor). Der graue Punkt (das schwarze Loch) ist also von einem Zustand in einen anderen umgesprungen und repräsentiert nun nicht mehr das Chaos, sondern eine Bleibe oder das Zuhause. Schließlich bricht der Punkt aus, tritt aus sich heraus, und  zwar unter Einwirkung von umherirrenden zentrifugalen Kräften, die sich bis zur Sphäre des Kosmos ausbreiten: "Diese Gebärde will in Stößen von der Erde weg, die nächste erhebt sich in Wirklichkeit über sie. Sie erhebt sich über sie unter dem Diktat von Schwungkräften, welche über die Schwerkräfte triumphieren" (Paul Klee).

Die Rolle des Ritornells ist oft hervorgehoben worden: es ist ortsgebunden, territorial, es ist ein territoriales Gefüge. Vogelgesang: der singende Vogel markiert auf diese Weise sein Revier... Die griechischen Tonarten oder die hinduistischen Rhythmen sind an sich schon territorial, provinziell und regional bestimmt. Das Ritornell kann auch andere Funktionen übernehmen, amouröse, berufliche oder soziale, liturgische oder kosmische: es trägt immer Erde mit sich, sein Begleiter ist eine — manchmal auch spirituelle — Erde, es hat eine wichtige Beziehung zum Heimatlichen, zum Geburtsort. Ein musikalischer "Nomos" ist eine kleine Weise, eine melodische Formel, die wiedererkannt werden kann und das Fundament oder die Grundlage der Polyphonie bleibt (cantus firmus). Der nomos als Gewohnheitsrecht und ungeschriebenes Gesetz ist nicht von einer Aufteilung des Raumes, von einer Verteilung im Raum zu trennen, und gerade deshalb ist er ethos, aber Ethos ist auch die Bleibe.  - Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus. Berlin 1992

Lied Wiederholung

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme