Risikoscheu   «Darauf wollen wir trinken. Auf uns, Liebling.»

«Auf uns.»

Sie verzog das Gesicht, als die Flüssigkeit ihre Lippen benetzte.

Er lachte. «Du siehst aus, als trinkst du Gift. Schütt's runter, Mädchen. So!»

Er öffnete seine Kehle und leerte das Glas. Lachend erschauderte sie und schluckte ihr Bier. Er nahm ihr das leere Glas ab und zog sie in seine Arme. Sie klammerte sich an ihn, und ihre Hände waren wie eine kalte Kompresse an seinem Hals. Er machte sich von ihr los und zog sie neben sich in den Sessel. Aneinandergeklammert glitten sie zu Boden und lagen dann auf dem Teppich vor dem Gasofen. Nagle hatte das Licht ausgeschaltet, und in dem hellroten Licht des Feuers schimmerte ihr Gesicht, als läge sie in der prallen Sonne. Das Zischen des Gases war das einzige Geräusch in der Stille.

Von einem der Sessel zog er ein Kissen herab und schob es ihr unter den Kopf. Nur ein Kissen; das andere brauchte er noch als Polster für den Gasherd. Die Chance, daß sie erwachte, war geringer, wenn er es ihr auf ihrer letzten kurzen Rutschpartie aus der Bewußtlosigkeit in den Tod bequem machte. Er legte den linken Arm um sie, und sie lagen aneinan-dergeklammert da, ohne zu sprechen. Plötzlich drehte sie das Gesicht herum, und er spürte ihre Zunge feucht und glitschig wie einen Fisch zwischen seinen Zähnen. In ihren Augen, deren Pupillen im Gaslicht schwarz schimmerten, stand Begierde. «Liebling», flüsterte sie. «Liebling.» Himmel, dachte er, nicht das noch! Er konnte sie jetzt nicht lieben. Es würde sie ruhig halten, aber es ging einfach nicht. Er hatte nicht die Zeit dazu. Und bestimmt konnte der Polizeiarzt feststellen, wie lange das bei einer Frau her war. Zum erstenmal dachte er erleichtert an ihre übertriebene Vorsicht und flüsterte: «Es geht nicht, Liebling. Ich habe nichts mit. Wir können es jetzt nicht riskieren.»

Sie stieß ein leises zustimmendes Murmeln aus und kuschelte sich an ihn, wobei sie das linke Bein über seine Schenkel schob. Schwer und reglos lag es da, doch er wagte sich nicht zu bewegen oder etwas zu sagen, um ihren heimtückischen Sturz in die Bewußtlosigkeit nicht aufzuhalten. Sie atmete tiefer, und ihr Atem traf ihn heiß und aufreizend in das linke Ohr. Himmel, wie lange sollte das noch dauern! Er hielt den Atem an und lauschte. Plötzlich stieß sie ein leises Schnauben aus wie ein zufriedenes Tier. Unter seinem Arm spürte er einen Wechsel im Rhythmus ihres Atems. Die Spannung ließ fast spürbar nach, als ihr Körper erschlaffte. Sie schlief.

Ruhig noch ein paar Minuten warten, dachte er. Er hatte nicht viel Zeit, doch er durfte nichts überstürzen. Es war wichtig, daß ihr Körper keine Druckstellen aufwies, ganz abgesehen davon, daß ihn der Gedanke an einen Kampf mit Entsetzen erfüllte. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn sie erwachte und sich wehrte, mußte er weitermachen.

Also wartete er ab und lag so still, als wären sie zwei Tote, die in symbolischer Umarmung miteinander erkalteten. Nach einer Weile stemmte er sich vorsichtig auf den rechten Ellenbogen hoch und sah sie an. Ihr Gesicht war gerötet, der Mund mit der kurzen Oberlippe, die ihre weißen Kinderzähne freilegte, war halb geöffnet. Er roch das Paraldehyd in ihrem Atem. Er beobachtete sie einen Augenblick und bemerkte dabei die Länge der hellen Wimpern auf ihren Wangen, die hochgeschwungene Linie der Augenbrauen und die Schatten unter den breiten Wangenknochen. Seltsam, daß er nie dazu gekommen war, ihr Gesicht zu zeichnen. Doch es war zu spät, sich darüber Gedanken zu machen.

Als er sie vorsichtig durch das Zimmer zur schwarzen Öffnung des Gasherds trug, murmelte er ihr leise zu: «Alles in Ordnung, Jenny, mein Liebling. Ich bin's nur. Ich lege dich bequemer hin. Alles in Ordnung, Liebling.»

Doch er wußte, daß er nur sich selbst beruhigen wollte. In dem großen altmodischen Herd war trotz des Kissens viel Platz. Der untere Teil befand sich nur wenige Zentimeter über dem Boden. Nagle tastete nach ihren Schulterblättern und schob sie sanft vorwärts. Als der Kopf mit dem vollen Gewicht auf dem Kissen lag, vergewisserte er sich, daß die Gasdüsen nicht versperrt waren. Sanft rollte ihr Kopf zur Seite, so daß der halbgeöffnete Mund, feucht und verwundbar wie der eines Babys, dicht über den Düsen hing, bereit, den Tod einzuatmen. Als er seine Hände unter ihrem Körper hervorzog, stieß sie ein leises Seufzen aus, als läge sie nun endlich bequem.  - P. D. James, Eine Seele von Mörder. Reinbek bei Hamburg 1979

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