igorist
Allein die vielen Verbrechen der Intimität, die ungesühnt bleiben!
Die vielen trostlosen Falschheiten und Täuschungen
des Zusammenlebens, die Verschlagenheiten der Liebe, Gemeinheiten und Verletzungen
oft, die in jedem anderen sozialen Bereich undenkbar wären... Ist denn Intimität
kein sozialer Bereich? Ich sehe Schuld und Übeltat, doch die Verhältnisse soufflieren
mir etwas von Wechselseitigkeit, schwieriger Kindheit, Schwäche der Lebensführung,
mangelndem Schuldbewusstsein, Launen und verlorener Beherrschung. Die Verhältnisse
plädieren für Verzeihen, wo ich nur Unverzeihliches erkennen kann. Für mich
sind die Verbrechen des Gefühls nicht entschuldbar aus übergeordneten sozialen
oder psychologischen Gesichtspunkten. Ich bedaure, dass es in der zivilisierten
Welt keine Instanz der Gerechtigkeit gibt, die sie ahndet. Nur uns gibt es.
Den kleinen unabhängigen Bund der erotischen Rigoristen, eine auf Dantes
fedeli d'amore zurückgehende schlagkräftige Vereinigung, die schon so
manches schlimme Intimvergehen aufspürte und die Schuldigen zur Rechenschaft
zog. Auch im dunkelsten verborgensten Winkel einer "Privatangelegenheit"
finden wir euch! Wir entdecken jeden und werden ihn der Kälte,
der Feigheit, des Betrugs
oder der Infamie überführen. Und anschließend für die angemessene Vergeltung
sorgen! - Botho Strauß, Der Untenstehende auf Zehenspitzen. München
2004. Nach: Der Spiegel 9 / 2004
Rigorist
(2) Marihuana-Joe verdankte seinen Namen dem
Umstand, daß er jedem seiner Opfer einen Joint zwischen die entseelten Lippen
steckte, nicht weil er Marihuana rauchte, sondern weil er andeuten wollte, der
Tote sei ein schiechter Mensch gewesen. Er heftete seinen Opfern auch Zettel
an die Brust, worauf zu lesen war, warum er sie umgebracht hatte, doch nannte
er nie den wirklichen Grund, den nur das Syndikat wußte, er schrieb den hin,
der für seinen Ruf genügte, jemand ins Fadenkreuz seines Zielfernrohrs zu nehmen:
Ehebrecher, unehrerbietig seiner Mutter gegenüber, Atheist, Geizhals, Präsident,
Kommunist usw., weshalb das ‹Time Magazine› schrieb, als es Marihuana-Joe zum
Mann des Jahres erklärte, eigentlich könnte dieser mit seinen moralischen Grundsätzen
die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten abknallen. Rätselhaft blieb,
warum ihn die Polizei nicht zu fassen vermochte. Er ging nach der Tat leichtsinnig,
wenn auch scharfsinnig vor. Er schreckte vor nichts zurück, um an seinen Opfern
sein Kennzeichen anzubringen, sei es, daß er zu der Leiche ins Trauerhaus schlich
oder sich in die Gerichtsmedizin einschmuggelte, oder wohin auch immer. Keine
seiner Leichen war nachträglich vor ihm sicher. Selbst als die Polizei Pepe
Runzel ausbuddelte, weil seine Witwe behauptete, er habe nicht Selbstmord begangen,
und den Sarg öffnete, fand sie zwischen Pepes Zähnen den Joint und auf der Brust
einen Zettel: Bordellbesitzer. - Friedrich Dürrenmatt, Durcheinandertal. Zürich
1998
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