Riemenmensch   Er ging, ging und kam in einen Wald; dort sah er einen Mann unter einem Baum sitzen.

»Guten Tag dir, Onkel«, sagte er. »Sei gegrüßt, tausendmal sei gegrüßt, Königssohn!« Der Königssohn dachte: »Er muß mich gut kennen, wenn er mich so nennt.« - »Hast du Brot? Ich bin hungrig«, sagte der Bursche. »Brot ist da, Gott sei Dank, und Wasser auch, nur Beine habe ich nicht, ich bin beinlos, komm und nimm mich auf den Rücken und trage mich, unser Haus befindet sich unter diesem Hügel, ich werde dir Brot und auch Wasser geben und dich bewirten.« Der Bursche glaubte es, kam hin und lud ihn sich auf die Schulter.

Jener hatte diese Besonderheit: vom Rücken nach unten waren Riemen, oben war er ein Mensch, er hieß auch Riemenmensch. Er wickelte sich um den Burschen von den Beinen bis zu seinen Armen, schwang sich hoch und setzte sich ihm auf den Hals. Einen Monat lang quälte er den Burschen sehr, mal jagte er ihn hierhin, mal jagte er ihn dorthin, mal ließ er ihn Wasser, mal einen Stab schleppen; nicht eine Stunde gab er ihm Ruhe. Eines Tages sah der gequälte Bursche einen Kürbis, er seufzte tief. »Hundesohn«, rief der Riemenmensch von seinem Halse, »weshalb seufzt du, deine Seele ist ja in meinen Händen, willst du dich etwa von mir befreien?« - »Herr«, sagte der Bursche, »alles opfere ich für deinen Kopf, mein tiefer Wunsch ist, daß du mir erlaubst, hieraus ein Gericht zu bereiten, daß wir es essen.« - »Nun, schnell, wollen wir sehen, was für ein Gericht das ist.« Der Bursche schnitt den oberen Teil von dem Kürbis ab, nahm von innen alles heraus, brachte von den Bäumen Weintrauben und preßte den Saft hinein; er legte ihn in die Sonne und ging fort. Eines Tages erinnerte sich der Riemenmensch daran und sagte zu dem Burschen: »Eh, Hundesohn, komm, essen wir dein Gericht auf.« Der Bursche kam hin, stellte sich neben den Kürbis und bat, diese Speise als erster essen zu dürfen. Der Riemenmensch schlug den Burschen aufs Gesicht. »Hundesohn, wer bist du denn, daß du vor mir essen willst?« - »Zum Teufel, Herr, nimm, iß, schlage mich nicht tot! Iß und sei von Gott gesegnet, wenn etwas übrigbleibt, dann esse ich auch.«

Der Riemenmensch aß, trank und sättigte sich; die Riemen wurden schlaff, da fiel er herunter, dem Burschen zu Füßen. Der Bursche befreite sich; er ging zum Wasser, legte die Kleider ab und wusch sie; als sie sauber waren, hängte er sie zum Trocknen auf. Er zog sie an und kehrte zurück, auf daß der Riemenmensch ihn freiließe. Jener sitzt da. »Guten Tag dir, Onkel«, sagt er. »Sei gegrüßt, tausendmal sei gegrüßt, Königssohn; du bist willkommen, auf meinen Kopf, auf mein Gesicht nehme ich dich gern.« - »Wie verbrachte ich meine Tage in deinen Händen, wie quältest du mich, zerriebst du mich, wäre ich es nicht gewesen, sondern irgendein Schwächling wäre in deine Hände gefallen, du hättest ihn zu Tode gequält, bekennst du dich zu keinem Gott?«

Der Königssohn holte einen Knüppel, ließ den Knüppel mitten auf seinen Kopf niedersausen, der Kopf flog auseinander in tausend Stücke; die Seele fand ihr Teil in der Hölle.   - Armenische Märchen. Hg. Isidor Lewin mit Uku Masing. Düsseldorf, Köln 1982 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)

 

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