Richter, toter Während er den Hauptgang durchschritt, bemerkte er zwei Seitengänge, aber in dem begrenzten Lichtkreis seiner Kerze konnte er nicht erkennen, wohin sie führten. Plötzlich hielt er den Schritt an. Das Kerzenlicht fiel auf einen mageren Mann, der gerade vor ihm aus dem Seitengang kam und fast mit ihm zusammengestoßen wäre.

Der Fremde stand reglos und sah den Richter mit seltsam leerem Bück an. Sein regelmäßiges Gesicht war auf der linken Wange durch ein Muttermal in der Größe einer Kupfermünze entstellt. Zu seinem Erstaunen bemerkte der Richter, daß der Fremde barhäuptig war und sein ergrauendes Haar in einem hohen Knoten trug. Undeutlich erkannte er, daß er ein graues Hausgewand mit schwarzem Gürtel anhatte.

Als der Richter den Mund öffnete, um den Mann zu fragen, wer er sei, trat dieser plötzlich geräuschlos in den dunklen Gang zurück. Schnell hob der Richter die Kerze, aber die plötzliche Bewegung löschte das Licht. Er stand in schwarzer Finsternis.

»Ihr da, kommt her!« schrie der Richter. Doch nur das Echo seiner eigenen Stimme antwortete ihm. Er wartete einen Augenblick. Da war nichts als die tiefe Stille des Hauses.

»Dieser unverschämte Schurke!« brummte Richter Di wütend. Mit den Händen tastend, fand er wieder zum Innenhof zurück und ging schnei! in sein Arbeitszimmer.

Tang stand mit Wachtmeister Hung über ein umfangreiches Aktenbündel gebeugt.

»Ich erkläre ein für allemal«, wandte sich Richter Di gereizt zu Tang, »daß sich kein Angehöriger des Personals ohne Amtsrobe im Gerichtsgebäude bewegen darf, nicht einmal bei Nacht und außer Dienst. Soeben begegnete ich einem Burschen im Hausgewand und ohne Kopfbedeckung. Und dieser Flegel bequemte sich nicht einmal zu einer Antwort, als ich ihn zur Rede stellte. Geht und holt ihn, er soll eine Lektion von mir bekommen.«

Tang begann am ganzen Körper zu zittern und sah den Richter in grenzenlosem Entsetzen an. Richter Dis Mitleid erwachte, schließlich gab sich der Mann alle Mühe. Ruhiger fuhr er fort:

»Nun, solche Sachen können einmal vorkommen. Aber wer ist dieser Mann? Vermutlich der Nachtwächter.«

Tang warf einen scheuen Blick zur offenen Tür hinter dem Richter. Er stammelte:

»Trug er ... trug er ein graues Gewand?«

»Ja, er trug ein graues Gewand«, antwortete der Richter.

»Und hatte er ein Muttermal auf der linken Wange?«

»Auch das hatte er«, bestätigte der Richter. »Aber hört einmal auf mit dem Gestammel. Erklärt Euch, wer ist dieser Mann?«

Tang senkte den Kopf. Tonlos antwortete er: »Das war der tote Richter, Euer Gnaden.«

Irgendwo im Gebäude schlug dröhnend eine Türe zu - Robert van Gulik, Geisterspuk in Peng-lai. Zürich 1988

Richter Tote

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