evolution, deutsch-jüdische Landauer, als Erziehungsminister eingesetzt, belegte die Palastbibliothek im zweiten Stock. Er war ein rastloser Mann, der außerstande war, hinter seinem Schreibtisch zu bleiben. Er suchte ständig die anderen Regierungsstellen auf. Wenn er durch den Palast stolzierte, rief er fortwährend aus: "Hier kommt Landauer!"
Ich interviewte ihn jeden Tag und war fasziniert von seiner Eigenwilligkeit. Er neigte dazu, während seiner Rede innezuhalten und seinen Namen mit einem unvermuteten Schrei auszurufen. Die Interviews bestanden hauptsächlich in Diskussionen über Walt Whitnan.
"Jedes bayerische Kind im Alter von zehn Jahren ist dabei Walt Whitman auswendig zu lernen," sagte mir Landauer. "Das ist der Eckpfeiler meines neuen Erziehungsprogramms."
Der Verrückteste aus der Gruppe war Mühsam. Diktator Toller machte sich Sorgen um ihn.
"Wir haben darüber diskutiert, ob wir ihn einsperren sollen," sagte Toller, "zu seinem eigenen Nutzen. Ich habe mich dagegen entschieden - vorerst."
Mühsam war in Ungnade gefallen, weil er auf den Straßen Ärger verursacht hatte. Er hatte einen kleinen Lastwagen zu seinem eigenen Bedarf abkommandiert. Damit unternahm er Rundreisen durch Münchens Straßen. Wann immer er eine Menschenmenge sah, hielt er seinen Wagen an, stellte sich auf den Sitz und begann mit einer Ansprache. Für gewöhnlich setzte er eine Rezitation seines berühmten revolutionären Gedichtes "Die Sonne der Freiheit" an den Anfang.
Tausende von Arbeitern bummelten noch durch die Straßen, als ob ein Picknick und keine Revolution stattfände. Sie faßten eine Abneigung gegenüber ihrem lyrischen Sprecher. Sobald er sein Gedicht zu rezitieren anfing, hoben sie an zu schreiein und schwenkten ihre Gewehre. Verschiedene Male hatten sie seinen Lastwagen gestürmt und ihn von seiner Bühne heruntergerissen. Einmal hatte eine Schießerei eingesetzt, und er hatte um sein Leben rennen müssen.
Diktator Toller kam schließlich auf die Idee, Mühsam zum bayerischen Minister für Moskau zu ernennen.
"Das wird ihn aus der Stadt bringen," sagte Toller. "Es ist besser als ihn einzusperren."
Mühsam war entzückt von der Ernennung, aber er weigerte sich, München zu verlassen. Er begab sich stattdessen nach Hause und begann damit, lange unterwürfige Briefe an Lenin zu schreiben. Er unterzeichnete sie: "Mühsam, Dichter der Revolution und bayerischer Minister für Moskau."
Rudi, als Zensor, konfiszierte die Briefe und zerriß sie.
"Ich lasse den Idioten in Freiheit," sagte Rudi zu mir, "wenn Sie bei Ihrer Ehre versprechen, keines seiner Gedichte nach Amerika zu schicken. Sie würden unsere Revolution in Verruf bringen."
Mühsams Sorgen konnten seiner guten Laune nichts anhaben. Die Menschen waren frei. Die Sonne der Freiheit schien auf sie. Gerechtigkeit war in die Welt gekommen. Mühsam wandelte in Utopia, und sein Herz floß über.
Seine Freude wuchs noch, als er eine Postkarte unter der Tür seiner Mansarde fand, auf der stand: "Mühsam muß sterben." Sie war unterzeichnet: "Die Gesellschaft zur Abschaffung von Monstrositäten."
Mühsam strahlte über die Postkarte wie über ein bedeutendes Diplom. "Sie
ist von den Feinden des Volkes," sagte er. "Sie fürchten
mich." - Ben Hecht, Ein
Kind des Jahrhunderts. [Auswahl] Siegen 1985
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