essentiment Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden, — ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten die »edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen« Pharisäer (— ich erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-Großmaul, das es jetzt gibt, selbst noch unter seinesgleichen, den Antisemiten).
Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch
Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer
Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen
und ebenso in Maskeraden der Rache,
in Vorwänden zur Rache: wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten,
sublimsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft,
wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen
ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks
zu schämen begönnen und vielleicht untereinander sich sagten »es ist eine
Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel
Elend !« ... - Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der
Moral (1887)
Ressentiment (2) Und Carnot!
Wie verfolgt er nicht diesen großen Arbeiter, diesen schweigsamen und unerschütterlichen
Organisator mit seinem Mißtrauen! Es ist schwer,
diesem ernsten Mann eine heftige Gegenrede zu entreißen. Aber einmal hat er
ihm doch Tränen der Wut entlocken können. Er hat ihm heimliches Einverständnis
mit den Feinden vorgeworfen, in der Hoffnung, daß dieser Mann nun endlich einmal
seine verachtungsvolle Ruhe verlieren werde, aber Carnot hat kein Wort gesagt,
er hat nur sein Gesicht mit beiden Händen zugedeckt, und die wütenden
Tränen sind ihm zwischen den Fingern heruntergelaufen.
Köstliche Tränen für Robespierre, aber doch Tränen
eines Soldaten, der sich nicht ducken läßt. Ein anderes
Mal hat er ihm sogar zugerufen: »Bei der nächsten Niederlage werden wir uns
wieder sprechen!« Freilich hat er sich gerade Carnot gegenüber einmal
so weit vergessen, von dem wahren Grund seines Ressentiments den Schleier wegzuziehen:
»Du bist wirklich glücklich! Was gäbe ich nicht darum, ein Militär zu sein!«
- Friedrich Sieburg, Robespierre. München
1965 (zuerst 1935)