eserviertheit
Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit
unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten, wie in der kleinen
Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat,
so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare
seelische
Verfassung geraten. Teils dieser psychologische Umstand, teils das Recht auf Mißtrauen,
das wir gegenüber den in flüchtiger Berührung vorüberstreifenden Elementen des
Großstadtlebens haben, nötigt uns zu jener Reserve, infolge deren wir jahrelange
Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen und die uns dem Kleinstädter so oft als
kalt und gemütlos erscheinen läßt. Ja, wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite
dieser äußeren Reserve nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns
zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung,
die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und
Kampf ausschlagen würde. Die ganze innere Organisation eines derartig ausgedehnten
Verkehrslebens beruht auf einem äußerst mannigfaltigen Stufenbau von Sympathien,
Gleichgültigkeiten und Aversionen der kürzesten wie der dauerndsten Art. Die Sphäre der
Gleichgültigkeit ist dabei nicht so groß, wie es oberflächlich scheint; die Aktivität
unserer Seele antwortet doch fast auf jeden Eindruck seitens eines anderen Menschen mit
einer irgendwie bestimmten Empfindung, deren Unbewußtheit, Flüchtigkeit und Wechsel sie
nur in eine Indifferenz aufzuheben scheint. Thatsächlich wäre diese letztere uns ebenso
unnatürlich, wie die Verschwommenheit wahlloser gegenseitiger Suggestion unerträglich,
und von diesen beiden typischen Gefahren der Großstadt bewahrt uns die Antipathie, das
latente und Vorstadium des praktischen Antagonismus, sie bewirkt die Distanzen und
Abwendungen, ohne die diese Art Leben überhaupt nicht geführt werden könnte.
- Georg Simmel, Die Großstädte und das
Geistesleben. 1903