Reserve  Ich war auf der verzweifelten Suche nach einer Lebensreserve. Eine solche Reserve muß in jedem Menschen vorhanden sein, solange er noch atmet. Das Leben hängt weder von einem Erfolg, einem Ziel, das man erreicht oder an dem man scheitert, und auch nicht von der inneren Betätigung ab, positiv oder negativ; die gedanklichen Konstruktionen, die Widerstände spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Entfaltung dieser Lebensvitalität - - - gut, ich bin nicht zur Entfaltung gekommen; das ist noch nicht die Katastrophe. Wenn man sich nicht umbringt, und wenn man nicht umgebracht worden ist, so ist das noch nicht das Ende: es gibt Zwischenstationen. Diese Zwischenstationen machen den normalen Lebensablauf aus. Jeder ist ständig dabei, sich umzubringen. Das gehört zum biologischen Gesetz, nach dem wir ins Leben gestellt sind - - - aber trotzdem: Bringe dich ins Gleichgewicht, steh auf, sofern du am Boden liegst! Ich muß bekennen: ich habe diese Reserve nicht gefunden. Ich weiß, und wußte es von Beginn an, daß diese Reserve vorhanden sein muß, eine Lebensfunktion genauso selbstverständlich wie das Atmen - ich habe sie nicht zum Leben erwecken und entfalten können.

Hier liegt irgendwie die Schuld, vielleicht nicht allein in mir, sondern in einer Entwicklung, die ich versäumt habe, auf mich zu konzentrieren und resonanzfähig zu gestalten. Die Personen, Begebenheiten, Unglücksfälle, Partei, Politik, Glaube, Begeisterung und Kameradschaft zählen nicht mehr. Sie sind ohne die Reaktionen geblieben, die notwendig sind, darin zu schwimmen, das heißt erfolgreich zu sein.

In den frühen psychoanalytischen Schriften wird diese Reserve als Zweisamkeit umschrieben, ein Attribut zur biologischen Funktion des Einzelmenschen, deren negative und mehr emotionelle Seite oft in Vergessenheit gerät. Der Zersetzungsprozeß scheint ebenso wichtig wie der zusätzlich aufbauende und entfaltende, denn es kommt schließlich auf das Gleichgewicht an, unter dem der Mensch seine Tage im Leben verbringt. Nach solchen Auffassungen scheint der Mensch berufen, mit der Reserve dieser Zweisamkeit durchs Leben zu gehen; es kann natürlich auch anders sein.

In meinen ersten literarischen Arbeiten hatte ich diese Zweisamkeit als „Beziehung" umschrieben, ein bevorzugtes Grundthema dieser Bücher. Ich hatte die Beziehung als Forderung konstruiert und die Forderung damals, wenn man das so nennen will, hinausgeschrien. Darin lag eine gewisse Besonderheit und Kraft, die für die gesamte literarische Richtung dieser Jahre so bezeichnend war. Ich hätte es sowieso nicht mit einfachen Worten sagen können. Es ist das, was Samuel Lublinski in der Form dramatischer Konstruktion die Gemütswucht genannt hat - - - unter einem unwiderstehlichen Druck, unartikuliert. - Franz Jung, Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit. Salzhausen 1979 (zuerst 1961)

 

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