Reporter   Ich sah, wie Jack Dempsey in Atlantic City aus dem Ring geschlagen wurde, wieder hochstieg und gewann. Ich sah, wie Ben Jeby dreimal zu Boden ging, sich noch einmal aufkämpfte und einen K.-o.-Schlag landete. Ich sah, wie Pepe Ortiz von einem Stier auf die Hörner genommen wurde, auf den Füßen landete, und, blutüberströmt, seine Toreros zur Seite winkte, um dem Stier selbst den Todesstoß zu versetzen.

Ich sah die Grubenarbeiter von Herrin, Illinois, unbewaffnet auf die donnernden Geschütze der Milita losgehen, haufenweise tot umfallen und ihren Arbeitskampf gewinnen.

Ich sah Blackie Weed auf dem Galgen stehen und dem Sheriff  ins Gesicht spucken, lachen, als ihm die Schlinge um den Hals gelegt wurde, und schallend auflachen, als sie sich zuzog.

Ich sah Joe Gans, wie er in einem Notarztwagen zu seinem Totenbett fuhr, die Fäuste immer noch geballt und zuckend, und sein Kinn vor Bat Nelson in Deckung gehend.

 Ich sah Chris Haggerty von AP bei der Überschwemmung in Dayton einen vereisten Telegraphenmasten hochklettern und seine letzte Nachricht durchgeben:  »Dayton, Ohio - AP überall« und dann bewußtlos den Mast hinuntergleiten.

Ich sah Hugo Haase vor der ersten deutschen Nationalversammlung in Weimar aufstehen und verkünden: »Ich bin ein Deutscher, der glaubt, daß uns die Macht von Gewehren nur einen sehr schlechten Platz in der Menschheitsfamilie einbringt. Wenn dies Verrat ist, tötet mich.« Sie töteten ihn auf der Treppe des Reichstags in Berlin.

Ich sah Lou Gehring, wie er - sein Rückgrat schon ein Knochenknäuel — sein.letztes Schlagmal austeilte. Ich sah Jesus Maria Lopez vor dem Exekutionskommando in Chihuahua 1928 seine letzte Zigarette rauchen, die auf ihn gerichteten Gewehre angrinsen und sagen: »Eure Kugeln, meine Freunde, werden keinerlei Eindruck auf die Gedanken in meinem bescheidenen Kopf machen. Sie werden in anderen bescheidenen Köpfen weiterleben.«

Ich sah Teddy Roosevelt am Morgen von einem Attentäter angeschossen, am gleichen Abend, die Kugel immer noch in seinem Zwerchfell, in einer Versammlungshalle in Milwaukee stehen und die beste Rede seiner Laufbahn halten. Wenn ihm als Folge des morgendlichen Zwischenfalls irgend etwas zustieße, rief er der Menge zu, dann hoffe er, daß die Trauer um ihn durch die Erinnerung daran gemildert würde, welch teuflisch gute Zeit er in seinem Leben gehabt habe.

Ich sah Ben Welch, blind wie eine Fledermaus, auf die Bühne des Palace Theaters tänzeln und Witze vom Stapel lassen, daß sich das Publikum vor Lachen bog.

Ich sah Eugene Debs, den Sozialistenführer, aus dem Atlanta Gefängnis herauskommen und sagen: »Amerika ist das großartigste Land auf der Welt mit der glänzendsten Zukunft. Ich hoffe nur, daß nichts geschieht, diese Zukunft zu verdüstern. «

Ich sah George Gershwin die letzten Melodien für die Goldwyn Follies schreiben, während ein Hirntumor ihm einen Eispfriem durch den Schädel trieb.

Ich sah Billy Petrolle, zweimal geschlagen, in seiner alten indianischen Wolldecke in den Madison Square Garden zurückkehren und Jimmy McLarnin einheizen, daß ihm Hören und Sehen verging.

Ich sah, wie die Arbeiter der Bekleidungsindustrie in Chicago singend in die Doppelreihen berittener Polizei marschierten, zu Tode getrampelt wurden und ihren Streik gewannen. Ich sah eine Überlebende der Titanic, ein Dienstmädchen aus Galway, die mir erzählte, wie ihre Freunde im Zwischendeck gestorben waren. Da sie keinen Platz in den Rettungsbooten fanden, hatten sie sich in dem verbotenen, aber nun verlassenen Salon der ersten Klasse zusammengedrängt, Besitz von dem eleganten Piano ergriffen und irische Melodien gespielt und gesungen, während das Schiff unterging und sie mit ihm.

Ich sah Bill Haywood in der Nacht, in der er seine Kaution verspielte und aus seiner Heimat USA nach Rußland floh, um dort zu sterben. Er stand als Radikaler vor Gericht. Ich traf ihn auf der Galerie eines Burleskentheaters. Er war durch die Stadt gelaufen und hatte einen letzten Blick auf sein geliebtes Land geworfen. »Die Vorstellung hier ist großartig«, sagte er, auf einer Handvoll Erdnüsse kauend. »Ich geh' immer gern an Orte wie diesen, nur um zuzugucken, wie diese Penner im Publikum lachen.«

Ich sah einen AEF-Soldaten in seinem Krankenhausbett, beide Beine fehlten ihm, und da, wo sein Gesicht gewesen war, saß ein künstlicher Kiefer - diesen Soldaten sah ich die steifen Lippen bewegen und wie eine Mamapuppe quieksen: »Wir haben gesiegt.«

Diese und viele ähnliche Dinge habe ich gesehen. Neben der endlosen Saga von Unglück, auf die das Auge eines Reporters fällt, bekommt er auch diese wundersame Lebenskraft von kleinen Leuten in großen Schwierigkeiten zu sehen. Ihm wird ein privilegierter Blick auf die unerschrockenen Momente gewährt, die die Seele der menschlichen Geschichte sind. - Ben Hecht, 1001 Nachmittage in New York. Frankfurt am Main 1992 (it 1323, mit Zeichnungen von George Grosz, zuerst 1941)

 

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