Ren  An einem Wintertag, als Hans und ich in den Wald fuhren, um Brennholz zu holen, trafen wir ein Ren. Eine große Semle1 war's. Sie mußte von den Hunden aus ihrer Herde versprengt worden sein und sich dann verirrt haben. Der Schnee lag hoch, und als sie durch uns, die wir dahergefahren kamen, vom Wege verjagt wurde, konnte sie kaum die paar Schritte weit waten. Hans meinte, sie sei übel dran. Da wendeten wir unser Pferd um und fuhren nach Hause, um Flachbrot und Hering für die Semle zu holen. Merkwürdigerweise fraß sie beides und hatte keine Furcht vor uns. Als wir in den Wald fuhren, kam sie hinter uns her, sie stand bei uns, während wir aufluden, und als wir wieder nach Hause fuhren, spazierte die Semle auch mit. Aber daheim ließ sie sich von keinem Erwachsenen streicheln, sie schlug mit dem Vorderlauf aus, wenn sie einen wegjagen wollte. Nun brach die Nacht herein, und es stand harter Frost bevor; nach einem Kampf mit Vater bekamen wir endlich die Erlaubnis, die Semle in Gottes Namen in die Tenne zu sperren und ihr zu fressen zu geben.

Aber am Morgen wollte sie nicht wieder gehen. Im Gegenteil, sie blieb einen, blieb mehrere Tage und kam uns teuer zu stehen; der Vogt wurde benachrichtigt. Sie wurde in der Kirche ausgerufen, aber kein Besitzer meldete sich, er mochte auf dem Renfjeld weilen. Dann sprach man davon, die Semle zu versteigern; aber wer konnte in unserm armen Kirchspiel ein so großes Tier kaufen? Kurz, die Semle mußte im kleinen abgegeben, sie mußte geschlachtet werden.

Und wir taten die ganze Zeit über nichts andres, als sie mit Eßwaren zu versorgen. Sie fraß gern Flachbrot; aber Grütze bekam sie nicht herunter. Dagegen liebte sie es, an gefrorenen Rübenblättern zu kauen, über die wir zum Glück verfügten, und Hans und ich molken außerdem heimlich eine Kuh und boten der Semle die Milch an, aber das wollte sie auch nicht haben, gab dafür aber selber etwas Milch. Sie war übrigens so reizbar und bö'se gegen Erwachsene, daß sie nur uns Kinder in ihre Nähe ließ; zuweilen puffte sie uns die Mützen vom Kopfe und beschnupperte unser Haar. Vielleicht glaubte sie, wir wären eine Art merkwürdiger Kälber.

Da, eines Tags, kam ein Nachbar, der sollte sie erstechen. Aber er war dumm in dieser Kunst und bekam das Messer nicht hinein, er kannte die Stelle nicht und traf auf den Knochen; die Semle riß sich von uns allen los und sprang den Weg hinunter mit dem Messer im Nacken. Du sollst sehen, es nützt nichts, sagte Hans zu mir; die Semle wird sich schon zu helfen wissen!

Nun sollte sie erschossen werden.

Auch das wird nichts nützen, sagte Hans. Und wir faßten uns bei den Händen und heulten vor Begeisterung, daß das alles nichts nützen werde bei unsrer Semle.

Der Schütze wurde benachrichtigt. Er hatte eine alte Schrot-flinte, die er vorerst einmal über dem Herd in starker Warme aufzutauen begann. Dann machte er sich ans Laden. Ich weiß nicht, ob er nicht genug Schrot hatte, aber er hackte eine ganze Anzahl großer Nägel in Stückchen und lud die Flinte damit. Dann warf er ein paar geflüsterte Worte in den Herd; es war wohl eine Beschwörung oder was es nun sein mochte, er drehte sich jedenfalls unter Gemurmel und mit verzerrtem Gesicht wieder um. Eine Ahnung von etwas Dunklem und Seltsamem erfüllte uns bei seinem Treiben. So ein Schütze soll auch kein Handwerker, sondern ein Träumer sein; es liegt eine ungeheure Mystik in seinem Tun.

Dann nahmen wir die Semle wieder aufs Korn. Sie war widerspenstig und böse bis zum äußersten und wollte nicht mehr auf den Hof kommen, wir mußten alle den Hügel zu ihr hinuntersteigen. Dann legte der Schütze die Flinte an, zielt eine Ewigkeit lang und drückt ab.

Nun ist eine Rensemle gewiß ein großes Tier, aber selbst ein großes Tier wird in tiefe Bewegung geraten, wenn ihm eine Ladung Schrot und Nägel durchs Gehirn fährt. Einen Augenblick stand die Semle wie betäubt da, als horche sie auf etwas Gewaltiges in ihrem eigenen Kopfe, dann fiel sie in die Knie und rollte danach auf die Seite. Wir sahen etwas zottig Graues sich ein paarmal rühren, und dann lag es still da. So kam der Tod über die Semle.

1 Weibliches Ren

    - Knut Hamsun, Unter Tieren. Sämtliche Romane und Erzählungen Bd. 5. München 1977

 

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