Rekordversuch  Sie begannen, sich zu lieben, und es war wie der Aufbruch zu einer fernen Expedition, einer grossen Hochzeitsreise, die nicht durch Städte führte, sondern durch das ganze Reich der Liebe.

Als sie sich zum ersten Mal vereinigten, hatte Ellen Mühe, nicht zu schreien, und ihr Gesicht zog sich zusammen. Um ihren scharfen Schmerz zu ersticken, brauchte sie etwas, um darauf zu beis-sen, und das war die Lippe des Indianers. Marcueil hatte recht gehabt, als er sagte, dass für bestimmte Männer alle Frauen Jungfrauen sind, und Ellen litt unter dem Beweis, aber sie schrie nicht, obwohl sie verletzt war.

Sie stiessen einander genau in dem Augenblick zurück, in dem andere sich nur noch enger umarmen, denn beide sorgten sich nur um sich selbst und wollten keineswegs neues Leben erwecken.

Wenn man jung ist, wozu? Das sind Vorsichtsmaassnahmen, die man am Ende seines Lebens, nach dem Testament, auf dem Totenbett, ergreift — oder zu ergreifen aufhört. Die zweite Umarmung, geniesserischer, war wie die erneute Lektüre eines Lieblingsbuches.

.JErst nach mehreren Malen konnte Ellen auf dem Grunde der funkelnden und kalten Augen des Indianers ein wenig Vergnügen erkennen... sie glaubte daraus entnehmen zu können, dass er darüber glücklich war, dass sie bis zum Leiden glücklich war. .Sadist!., sagte sie.

Marcueil brach in ein freimütiges Lachen aus. Er gehörte nicht zu denen, die Frauen schlagen. Etwas in Ihnen erschien ihm viel zu grausam, als dass er es für nötig hielt, dem noch etwas hinzuzufügen.

Sie fuhren fort, und jede ihrer Umarmungen war eine Zwischenlandung in einem anderen Land, wo sie etwas entdeckten und jedesmal etwas Besseres.

Ellen schien entschlossen, etwas öfter glücklich zu sein als ihr Liebhaber und das von Theophrast angegebene Ziel vor ihm zu erreichen.

Der Indianer vertiefte in ihr Quellen beängstigender Lust, die noch kein Liebhaber angetastet hatte.

BEI ZEHN, sprang sie leichtfüssig aus dem Bett und kehrte mit einer entzückenden Schildpattdose zurück, die sie aus dem Ankleideraum geholt hatte.

.BEI ZEHN, haben Sie gesagt, Meister, muss man die Verletzungen mit gewissen Balsamen pflegen ... Dies ist ein ausgezeichneter Balsam, der in Palästina destilliert wurde...   . Ja, der Schatten kreischte, murmelte Marcueil. Er stellte sanft richtig: .BEI ELF. Später.   . .Sofort., sagte Ellen.

Die menschlichen Kräfte wurden überschritten, wie man am Fenster eines Eisenbahnwagens die vertraute Landschaft der Vorstädte hinter sich lässt.

Ellen erwies sich als eine so geschickte, aber natürliche Kurtisane! Der Indianer vermittelte auf so vollkommene Weise die Sensation eines Idols aus unbekannten und reinen Materialien, an dem jeder Teil, den man gerade streichelte, der reinste war. Am Ende der Nacht und den ganzen Morgen hatten die Liebenden nicht eine Stunde zum Ruhen oder zum Speisen: sie schlummerten oder wachten, sie hätten es nicht sagen können; sie knabberten Gebäck und kalte Platte; und das Trinken — aus der gleichen Schale — war nur eine der tausend Varianten ihrer Umarmung.

Um die Mittagsstunde — der Indianer hatte die Zahl des Theophrastus fast erreicht und Ellen sie schon seit langem überschritten - klagte Ellen ein wenig.

.Mir ist so heiss!., sagte sie, und ging durch den Saal, die Hände auf den straffen Brüsten; .ich bin nicht nackt genug. Ob ich es wagen kann, das Ding von meinem Gesicht zu nehmen?. Die Augen des Doktors lauerten hinter der Glasscheibe. .Wann werden wir es abnehmen?, wiederholte Ellen. .Sobald die Ringe um deine Augen unter der Maske hervortreten. .Wenn sie das nur bald täten., stöhnte Ellen. Er nahm sie auf seine Arme, in denen sie liegen blieb wie ein zusammengeknülltes Tuch; er legte sie auf das  Bett zurück, streckte sie aus und zog ihr das Bärenfell über die Füsse, wobei er ihr, um sie zum Lachen zu bringen, mit komischer Umständlichkeit erzählte:

.Aristoteles sagt in seinen Problemata: warum hilft es in der Liebe nicht, kalte Füsse zu haben?. Und er zitierte ihr Fabeln von Florian: Une jeune guenon cueillit Une noix dans sä coque verte ... Plötzlich entdeckten sie, dass sie Hunger hatten. Sie fielen über den Tisch her, der à la Gargantua gedeckt war, und assen wie die Armen eine einfache Suppe, wie die Armen, die sich mit den Aperitifs der Milliardäre die Eingeweide ausgehöhlt hatten.

Der Indianer verschlang alles rote Fleisch und Ellen alle Kuchen; aber er trank nicht allen Champagner, denn die Frau entnahm bei jeder Flasche den Schaum des ersten Glases. Sie biss hinein, als ässe sie Sahnenbaisers.

Danach küsste sie ihren Liebhaber: so wurde er über seiner roten Schminke am ganzen Körper mit Süssigkeiten überzogen. Danach liebten sie sich noch zweimal... Sie hatten Zeit: es war noch nicht einmal zwei Uhr nachmittags.

Dann schliefen sie: schliesslich, um elf Uhr siebenundzwanzig, abends, schliefen sie immer noch, als wären sie tot. Der Doktor, der schon mit dem Kopf nickte und selbst kurz vor dem Einschlafen war, schrieb die nun erreichte Endsumme nieder: 70

und steckte den Füllfederhalter ein.

Die Zahl des Theophrastus war erreicht, aber nicht überschritten.

Um elf Uhr achtundzwanzig wachte Marcueil auf, oder vielmehr das, was in ihm den Indianer ausmachte, war vor ihm aufgewacht. Unter seiner Umarmung schrie Ellen schmerzvoll auf, erhob sich ein wenig taumelnd, eine Hand an ihrer Kerrie, die andere an ihrem Geschlecht; ihre Augen irrten umher, wie ein Kranker seine Arznei sucht, oder ein Äthersüchtiger sein Lethe ... Dann fiel sie auf das Bett zurück: ihre Atmung verursachte zwischen den zusammengepressten Zähnen das gleiche Geräusch unmerklichen Wallens, das Krabben hervorbringen, jene Tiere, die vielleicht nachsummen, was immer von den Sirenen sie zu erinnern versuchen...

Während sie noch mit dem ganzen Körper nach Vergessen von der tiefen Verbrennung suchte, fand ihr Mund den Mund des Indianers...

Und sie erinnerte sich an keinen Schmerz mehr. Es blieben ihnen bis Mitternacht noch dreissig Minuten, eine Zeit, die ihnen genügte, sich zu erholen, um dann, die vorhergehende Episode mitgerechnet, den bekannten Parcours der menschlichen Kräfte einmal zu durchleben ... 82

schrieb Bathybius auf.

Als sie zum Ende gekommen waren, setzte sich Ellen auf ihr Hinterteil, ordnete ihr Haar und fixierte ihren Liebhaber mit feindseligen Augen:

.Das war überhaupt nicht amüsant., sagte sie. Der Mann hob einen Fächer auf, öffnete ihn zur Hälfte und schlug ihn ihr mit ausgestrecktem Arm ins Gesicht.   - Alfred Jarry, Der Supermann [Le Sûrmale]. Berlin 1969 (zuerst 1902)

 

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