Reistopf   Einst lebten die Menschen und die Götter beisammen. Die Menschen waren jedoch viel schlauer als die Götter und spielten ihnen beständig Streiche. Das einzige Mittel, um sich gegen die Frechheiten der Menschen zur Wehr zu setzen, bestand darin, daß die Götter sich unsichtbar machen konnten. Und wie machten sie sich unsichtbar? Ganz einfach: indem sie den Menschen, und zwar jedem einzelnen, Topfe zum Reiskochen über die Köpfe stülpten. Schon wußten die Menschen nicht mehr, wo sie waren, und wurden ganz kleinlaut. Allein die Schamanen können die Götter, wenn auch etwas undeutlich, aus den Augenwinkeln heraus erkennen. Denn ihre Töpfe sitzen schief.

Dieser Mythos der Sedang fiel der Professorin für Frauenstudien, Rikke, nach dem Aufwachen als erstes ein. Sie meinte sogar, diesen Mythos selbst geträumt zu haben. In ihrem Traum waren es allerdings keine Schamanen, sondern Priesterinnen gewesen. Wer anders als die Frauen sollte es denn verstehen, mit dem Topf so gut umzugehen.

Sie hatte etwas Kopfweh von dem billigen Wein, den sie auf der Vernissage getrunken hatte. Wenn sie die Augen wieder schloß, sah sie eine leuchtende Perle am Boden eines Reistopfs liegen. Könnte diese Perle nicht das Auge des Schamanen sein? Der Reis als Symbol für Erkenntnis? Aber nur diejenige erkennt, die sich nicht allein um die Nahrungszubereitung bemüht, sich nicht mit dem ganzen Kopf im Topf, das heißt in Heim und Herd, versenkt. - Frank Witzel, Blue Moon Baby. Hamburg 2015 (Edition Nautilus, zuerst 2001)

 

 

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