Reisewarnung   Außer einer deutschen Wirtschaftszeitung und einer alten >Weltwoche< war keine Lektüre aufzutreiben, die Stille des Hotels unmenschlich, an Schlaf nicht zu denken, weil die Angst hochkam, dann nicht mehr zu erwachen. Die Nacht zeitlos, gespenstisch. Draußen hatte es zu schneien aufgehört, alles war ohne Bewegung, die Straßenlampen schwankten nicht mehr, kein Windstoß, kein Churer, kein Tier, nichts, nur vom Bahnhof her hallte es einmal himmelweit. Ich ging zur Bar, um noch einen Whisky zu trinken. Außer der älteren Bardame fand ich dort noch einen Herrn, der sich mir vorstellte, kaum daß ich Platz genommen hatte. Es war Dr. H., der ehemalige Kommandant der Kantonspolizei Zürich, ein großer und schwerer Mann, altmodisch, mit einer goldenen Uhrkette quer über der Weste, wie man dies heute nur noch selten sieht. Trotz seines Alters waren seine borstigen Haare noch schwarz, der Schnurrbart buschig. Er saß an der Bar auf einem der hohen Stühle, trank Rotwein, rauchte eine Bahianos und redete die Bardame mit Vornamen an. Seine Stimme war laut und seine Gesten waren lebhaft, ein unzimperhcher Mensch, der mich gleicherweise anzog wie abschreckte. Als es schon gegen drei ging und zum ersten Johnnie Walker vier weitere gekommen waren, erbot er sich, mich am nächsten Morgen mit seinem Opel Kapitän nach Zürich zu schaffen. Da ich die Gegend um Chur und überhaupt diesen Teil der Schweiz nur flüchtig kannte, nahm ich die Einladung an. Dr. H. war als Mitglied einer eidgenössischen Kommission nach Graubünden gekommen und hatte, da ihn das Wetter an der Rückfahrt hinderte, ebenfalls meinen Vortrag besucht, ließ sich jedoch nicht darüber aus, nur daß er einmal meinte: »Sie tragen ziemlich ungeschickt vor.«

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg. Ich hatte in der Dämmerung - um noch etwas schlafen zu können - zwei Medomin genommen und war wie gelähmt. Es war immer noch nicht recht hell, obgleich schon lange Tag. Irgendwo glänzte ein Stück metallener Himmel. Sonst schoben sich nur Wolken dahin, lastend, träge, noch voll Schnee; der Winter schien diesen Teil des Landes nicht verlassen zu wollen. Die Stadtwarvon Bergen eingekesselt, die jedoch nichts Majestätisches aufwiesen, sondern eher Erdaufschüttungen glichen, als wäre ein unermeßliches Grab ausgehoben worden. Chur selbst offenbar steinig, grau, mit großen Verwaltungsgebäuden. Es kam mir unglaubhaft vor, daß hier Wein wuchs. Wir versuchten, in die Altstadt einzudringen, doch verirrte sich der schwere Wagen, wir gerieten in enge Sackgassen und Einbahnstraßen, schwierige Rückzugsmanöver waren nötig, um aus dem Gewirr der Häuser hinauszukommen; dazu war das Pflaster vereist, so daß wir froh waren, die Stadt endlich hinter uns zu wissen, obgleich ich nun eigentlich nichts von diesem alten Bischofssitz gesehen hatte. Es war wie eine Flucht. Ich döste vor mich hin, bleiern und müde; schattenhaft schob sich in den tiefliegenden Wolken ein verschneites Tal an uns vorbei, starr vor Kälte. Ich weiß nicht, wie lange. Dann fuhren wir gegen ein größeres Dorf, vielleicht Städtchen, vorsichtig, bis auf einmal alles in der Sonne lag, in einem so mächtigen und blendenden Licht, daß die Schneeflächen zu tauen anfingen. Ein weißer Bodennebel stieg auf, der sich merkwürdig über den Schneefeldern ausmachte und mir den Anblick des Tales aufs neue entzog. Es ging wie in einem bösen Traume zu, wie verhext, als sollte ich dieses Land, diese Berge nie kennenlernen. Wieder kam die Müdigkeit, dazu das unangenehme Geprassel von Kies, mit dem man die Straße bestreut hatte; auch gerieten wir bei einer Brücke leicht ins Rutschen; dann ein Militärtransport; die Scheibe wurde so schmutzig, daß die Wischer sie nicht mehr reinigen konnten.  - Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen. Zürich 1968 (zuerst 1958)

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