Regentochter  Als er den Blick etwas vom Boden hob, bemerkte er in einigem Abstand vor sich noch halb durch den Regenvorhang verborgen eine Gestalt, die über die Steine zwischen den Pfützen stolperte. Die Silhouette war die eines kleinen Mädchens, das in einer langen Pelerine mit Kapuze steckte und Gummistiefel trug. Wenn man es so zögernd durch die Pfützen waten sah, mit etwas gebeugtem Rücken, als ob es unter seiner Pelerine eine Schulmappe an die Hüfte preßte, dachte man zunächst an ein Schulkind, das auf dem Nachhauseweg sei, doch Grange wußte, daß es auf zwei Meilen in der Runde kein Haus gab, und außerdem fiel ihm plötzlich ein, daß ja Sonntag war. Er beobachtete nun diese Gestalt mit etwas mehr Aufmerksamkeit. In ihrem Gang lag etwas, das seine Neugier erweckte. Unter dem nun dichten Trommeln des Regens, um den sie sich überhaupt nicht zu kümmern schien, glich sie zum Verwechseln einem Kind, das die Schule schwänzt und im Wald herumläuft. Manchmal hüpfte sie mit geschlossenen Füßen über eine Wasserlache, manchmal blieb sie am Rande des Weges stehen, um einen Zweig abzubrechen — einen Augenblick wandte sie sich halb um und schien unter ihrer Kapuze hervor einen Blick rückwärts zu werfen, als ob sie abschätzen wolle, um wieviel Grange sich ihr bereits genähert habe, dann wieder hüpfte sie auf einem Bein und stieß dabei einen Stein vor sich her oder rannte ein paar Schritte, wobei sie das Wasser der Pfützen hoch aufspritzen ließ. Ein paarmal glaubte Grange trotz der Entfernung zu hören, wie sie vor sich hin pfiff. Der Weg verlor sich in immer größere Einsamkeit, der Regen, der sie umhüllte, ließ den Wald unter seinem Guß erstarren. ›Es ist eine Regentochter‹, dachte Grange und lächelte unwillkürlich hinter seinem hochgeschlagenen Mantelkragen, ein ›Kobold, eine kleine Waldhexe‹. Trotz des Regens verlangsamte er seinen Schritt, er wollte sie nicht allzu schnell einholen, er hatte Angst, daß das Geräusch seiner Schritte dieses graziöse, fesselnde Spiel eines jungen Waldtieres unterbrechen und es erschrecken könne. Als er ein wenig näher herangekommen war, wirkte sie nicht mehr ganz so wie ein kleines Mädchen, und als sie anfing zu laufen, schienen ihre Hüften vielmehr die einer jungen Frau, die außerordentlich lebhaften jugendlichen Bewegungen des Halses waren die eines auf der Weide tollenden Füllens, doch manchmal ging ein zärtliches Zittern darüberhin, das von ganz anderen Dingen sprach, so, als ob sich der Kopf allein entsänne, sich schon an die Schulter eines Mannes geschmiegt zu haben. Grange fragte sich ein wenig beleidigt, ob sie wirklich bemerkt habe, daß er hinter ihr her ging. Manchmal blieb sie am Rande des Weges stehen und brach in ein Lachen des Wohlbefindens aus, wie man es an einen Seilgefährten richtet, mit dem man am frühen Morgen einen Aufstieg unternimmt, dann wieder schien sie ihn ganze Minuten hindurch völlig vergessen zu haben und nahm ihr elbisches, koboldhaftes Hüpfen wieder auf. Und plötzlich erschien sie außerordentlich allein, ganz vertieft in das, was sie tat, wie ein Kätzchen, das sich von einem Menschen abwendet, um mit einem Wollknäuel zu spielen.  - Julien Gracq, Ein Balkon im Wald. Frankfurt am Main 1960 (zuerst 1958)
 
 

Regen Tochter

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme