eduktion  Ernst Jünger beginnt 1929 die Primärfassung des »Abenteuerlichen Herzens« mit einer Aufzeichnung über den Grund — und wohl auch die Zulässigkeit — der ›starken Anteilnahme‹ an der eigenen Person. Es gibt, kurz gefaßt, eine Instanz, die diese Anteilnahme teilt, ihr voraus ist, ihr das Recht gewährt: Egozentrik als Heterozentrik. Aber was da anteilnimmt, ist das Außerste an Reduktion: Ich habe das Gefühl, als ob ein aufmerksam beobachtender Punkt aus exzentrischen Fernen das geheimnisvolle Getriebe kontrollierte und registrierte, selbst in den verworrensten Augenblicken nur selten verloren. Es ist ein Gefühl von der Art, wie es in Jean-Paul Sartres atheistischem ›Urerlebnis‹ unters Fallbeil der Negation geriet: das Abschütteln der Last, einen Zeugen zu haben.

Nun ist ein aus exzentrischen Fernen beobachtender Punkt vordergründig von nur geringer Differenz zu dem Unzeugen des Atheisten, fast wie das Angebot eines Kompromisses an einen gar nicht Gekannten, noch nicht Kennbaren. Aber das nach dem Gang der Geschichte kaum noch Überraschende ist dann doch, was ich den ›physiognomischen Rest‹ nennen möchte, ohne den der Hunger nach kosmischer Zeugenschaft nicht auskommt. In Jüngers anschließendem Satz auf das Minimum gebracht: Ja, es schien mir oft, als ob in sehr menschlichen Augenblicken, etwa denen der Angst, dort oben etwas vorginge, was ungefähr einem mokanten Lächeln verglichen werden könnte. Kein gnädiges, kein nachsichtiges, kein verstehendes Lächeln, ein mokantes. Wir vergehen nicht, aber um den Preis der Unvergänglichkeit, höchstenorts nicht ernstgenommen zu werden. Ein neuer Anthropomorphismus: Wir könnten es selbst nicht, wenn wir an jenem Punkte der ›Beobachtung‹ wären.

In all diesem wird nicht mehr die Sprache der Negation, sondern die des Als ob gesprochen, wie erstmals in Epikurs Garten: Handle so, als ob Epikur dir zusähe! - (blum2)

Reduktion (2) Anfänglich ließ ihm der Vater noch etwas Freiheit. Er traf Vorbereitungen zu einem grundsätzlichen Experiment. Onkel Edward genoß seine Freiheit, indem er sich in der Stadt umschaute. Er kaufte sich ein Fahrrad von stattlicher Größe und fuhr auf diesem riesigen Apparat um den Ringplatz herum, wobei er von der Höhe seines Bocks in die Fenster des ersten Stocks schaute. Als er an unserem Haus vorbeikam, zog er vor den Damen, die am Fenster standen, elegant den Hut. Er hatte einen spira-lenförmig hochgezwirbelten Schnurrbart und ein kleines, spitzes Kinnbärtchen. Alsbald überzeugte er sich aber, daß ein Fahrrad nicht geeignet war, ihn in die tieferen Geheimnisse der Mechanik einzuführen, und daß dieser geniale Apparat nicht imstande war, seinen metaphysischen Schauern auf die Dauer zu genügen. Und dann begannen mit dem Onkel jene Experimente, bei denen sich sein Mangel an Vorurteilen bezüglich des »principium individuationis« als so unzuverlässig erwies. Onkel Edward machte keine Vorbehalte, sich zum Wohl der Wissenschaft physisch auf das nackte Prinzip des Neeffschen Hammers reduzieren zu lassen. Er erklärte sich ohne Groll mit einer allmählichen Reduktion aller seiner Eigenschaften behufs Bloßlegung seines tiefsten Wesens einverstanden, das - wie er seit langem zu spüren behauptete — mit dem genannten Grundsatz identisch sei.

Nachdem sich der Vater in sein Kabinett eingeschlossen hatte, begann er mit der allmählichen Analyse des komplizierten Wesens unseres Onkels Edward; es war eine quälende Psychoanalyse, die sich auf eine Reihe von Tagen und Nächten erstreckte. Der Tisch füllte sich allmählich mit den ausgebreiteten Komplexen seines Ichs. Anfänglich beteiligte sich der Onkel — freilich schon mächtig reduziert — noch an unseren Sitzungen und versuchte auch noch an unseren Gesprächen Anteil zu nehmen und fuhr noch einmal auf seinem Rad. Als er jedoch sah, daß er immer unvollständiger wurde, ließ er es sein. Es machte sich bei ihm eine bestimmte Art von Scham bemerkbar, die für das Stadium, in welchem er sich befand, charakteristisch war. Er floh die Menschen. Gleichzeitig näherte sich der Vater immer rascher dem Ziel seiner Maßnahmen oder Eingriffe. Er reduzierte den Onkel auf das unerläßliche Minimum und entfernte der Reihe nach alles Unwesentliche. Er brachte ihn hoch in einer Wandnische des Stiegenhauses an und organisierte seine Elemente nach dem Prinzip des Laclanchschen Elements. Die Mauer war an dieser Stelle schimmelig, ein Pilz hatte sein weißliches Gewebe ausgebreitet. Der Vater machte skrupellos vom ganzen Kapital der Begeisterung des Onkels Gebrauch und spannte dessen Lebensfäden entlang dem ganzen Flur und dem linken Flügel des Hause. Während er sich auf einer Leiter entlang der Wand des dunklen Korridors vorwärtsbewegte, schlug er den ganzen Leitungsstrang von Onkel Edwards gegenwärtigem Leben entlang kleine Zwecken ein. Diese rauchigen, gelben Nachmittage waren gerade völlig dunkel. Der Vater bediente sich einer brennenden Kerze, die aus der Nähe die morsche Wand Spanne um Spanne beleuchtete. Es zirkulieren Gerüchte, daß Onkel Edward, bisher so heldenhaft beherrscht, im letzten Augenblick doch eine gewisse Ungeduld bekundet haben soll. Es heißt sogar, daß es zu einem gewaltigen, wenn auch verspäteten Ausbruch gekommen sei, der um ein Haar das eben vollendete Werk vernichtet hätte. Aber die Installation war schon fertig, und Onkel Edward ergab sich, wie er sein Lebtag ein vorbildlicher Gatte, Vater und Geschäftsmann gewesen war, auch in dieser seiner letzten Rolle zu guter Letzt der höheren Notwendigkeit.

Der Onkel funktionierte ausgezeichnet. Es gab keinen Fall, daß er den Gehorsam verweigert hätte. Nachdem er aus seiner verwickelten Komplikation herausgetreten war, in der er sich bisher so oft verloren und verirrt hatte, fand er endlich die Reinheit  eines einheitlichen und geradlinigen Grundsatzes, dem er fortan  außerordentlich intensiv unterliegen sollte. Auf Kosten seiner mühselig verwalteten Vielfältigkeit hatte er jetzt eine einfache, unproblematische Unsterblichkeit gewonnen. Ob er glücklich war? Müßig, danach zu fragen. Diese Frage ist sinnvoll, wenn es um Wesen geht, in denen ein Reichtum von Alternativen und Möglichkeiten beschlossen ist, dank denen sich die aktuelle Wirklichkeit zur Hälfte realen Möglichkeiten gegenüberstellen und sich in ihnen spiegeln kann. Aber Onkel Edward hatte keine Alternativen und Gegenüberstellungen: glücklich oder unglücklich existierte nicht für ihn, weil er bis zu den endgültigen Grenzen mit sich selber identisch war. Es war unmöglich, sich einer gewissen Anerkennung zu enthalten, wenn man ihn so pünktlich, so genau funktionieren sah. Sogar seine Frau, Tante Tereza, konnte sich — als sie nach einer gewissen Zeit ihrem Mann auf die Spur gekommen war — nicht enthalten, jeden Augenblick auf den Knopf zu drücken, um diese laute und gellende Stimme zu hören, in der sie das alte Timbre der Stimme bei Wutanfällen erkannte. Was sein Töchterlein Edzi betraf, konnte man sagen, daß die Karriere ihres Vaters sie entzückte. Später freilich revanchierte sie sich an mir auf eine ganz besondere Weise und rächte damit die Tat meines Vaters, aber das gehört schon in eine andere Geschichte.  - Bruno Schulz, Der Komet. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966

Reduktion (3)

Reduktion (4)  Es gibt nichts Schlimmeres, nichts Widerwärtigeres, als mit dem Menschen, der einem anvertraut ist, eine Scharade aufzuführen, die vom Aussteigen aus dem Auto bis zum ersten Ausstrecken auf dem frisch bezogenen Gästebett geht und in der man jeden Moment innehalten könnte, als hätte jemand Ochs am Berge, eins, zwei, drei gerufen. Letztlich bietet das Leben nur Varianten archetypischer Kinderspiele und nichts anderes. Reise nach Jerusalem, Heiß-Kalt, Verstecken, Nachlauf, Ich sehe etwas, was du nicht siehst. Schere schneidet Papier, Papier umwickelt Stein, Stein bricht Schere. Für einen Moment ist man versucht, alle Befindlichkeiten des eigenen und aller fremder Leben auf diese drei Grundsätze zu reduzieren. - (raf)
 

Verkleinerung Vereinfachung

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