auhnacht Es war halb zwölf Uhr nachts an Mariä Lichtmeß in Harlem. Es war bitter kalt, und die Harlemer Erdschweine, wie die heißblütigen Bürger Harlems während der kalten Wintermonate genannt werden, hockten behaglich in ihren Höhlen.

Alle, außer einem.

In einer dunklen Querstraße der Convent Avenue, an der das Kloster liegt, nach dem die Avenue ihren Namen hat, montierte im Schatten der Klostermauer ein Mann ein Rad von einem Wagen ab. Er trug einen dunkelbraunen Overall, eine Militärjacke mit Wollfutter und eine pelzgefütterte, dunkelkarierte Jägermütze.

Auf der abfallenden Straße hatte er das rechte Hinterrad aufgebockt, und der Wagen stand gefährlich schräg. Aber der Mann war unbesorgt. Er arbeitete schnell und ohne Licht. In der fast schwarzen Finsternis war sein Gesicht nicht wahrnehmbar. Aus bestimmten Blickwinkeln wirkte das Weiß seiner Augen wie irisierende, vom Wind bewegte Halbmonde. Sein Atem war ein bläßlicher Geysir, der seinem nicht sichtbaren Mund entströmte.

Er lehnte das Rad gegen den Wagen, ließ die Achse auf das Pflaster herab, blickte sich kurz um und begann das linke Rad aufzubocken.

Er hatte das Rad hochgestützt und die Radkappe gelöst und setzte gerade den Schlüssel an eine Mutter, als die Scheinwerfer eines Wagens, der von der Convent Avenue her in die Straße einbog, ihn veranlaßten, in den Schatten zurückzuspringen.

Der Wagen kam näher und fuhr vorbei, nicht schnell, nicht langsam. Dem Mann quollen die Augen aus dem Kopf. Er wußte, daß er nüchtern war. Er hatte keinen Schluck Whisky getrunken, und er hatte kein Kraut geraucht. Aber er traute seinen Augen nicht. Was er da sah, war eine Fata Morgana. Aber er war nicht in der Wüste, und er war nicht am Verdursten. Vielmehr war ihm so kalt, daß er glaubte, seine Eingeweide würden gefrieren, und das einzige Getränk, nach dem ihm der Sinn stand, war heißer Rum mit Zitrone.

Er sah einen Cadillac an sich vorbeifahren, wie er noch keinen gesehen hatte. Und sein Arbeitsgebiet waren Autos.

Dieser Cadillac sah aus, als wäre er völlig aus massivem Gold, abgesehen von dem Verdeck, das aus einem hellen, glänzenden Gewebe bestand. Er sah so groß aus, als könnte er den Ozean überqueren. Vorübergehend erhellte er die pechschwarze Straße wie mit einem Freudenfeuer.

Sein Instrumentenbrett strahlte ein gespenstiges blaues Licht aus, gerade hell genug, die drei Personen zu beleuchten, die auf den Vordersitzen saßen.

Der Mann am Lenkrad trug eine Waschbärmütze mit langem buschigem Schwanz. Neben ihm saß die Schönheitskönigin Afrikas mit Augen wie erfrorene Pflaumen und einem Lächeln, das blaugefärbte Zähne in einem schwarzgestrichenen Totenschädel entblößte.

Der Herzschlag des Mannes setzte einmal aus. Dieses Gesicht war ihm erschreckend gut bekannt. Aber es war doch unmöglich, daß seine treue Sassafras um diese Zeit in der Nacht mit zwei fremden Männern in einem nagelneuen Cadillac herumfuhr! Darum richtete er seinen Blick schnell auf die dritte Person, die einen schwarzen Homburg und einen weißen Seidenschal trug und das kleine, mit einem Bärtchen gezierte Gesicht eines Amateurzauberkünstlers hatte.

In dem gedämpften bläulichen Licht wirkten die drei völlig unwirklich, wie etwas, das es gar nicht geben konnte, nicht einmal in der Nacht der Erdschweine in Harlem.

Er sah nach dem Nummernschild des großen goldenen Wagens, um sich Mut zu machen. Die Nummer gehörte einem Autohändler. Vorübergehend fühlte er sich wieder sicher. Das Ganze mußte ein Reklamegag sein.

Plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Frau auf. Er konnte gerade noch erkennen, daß sie eine alte, in solides Schwarz gekleidete Dame war, deren silberweißes Haar im Licht der Scheinwerfer kurz aufschimmerte, ehe sie von dem goldenen Cadillac erfaßt und niedergeworfen wurde.

Er spürte ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut; das krause Haar unter der pelzgefütterten Mütze sträubte sich ihm. Unwillkürlich fragte er sich, ob er träumte.

Aber der Cadillac beschleunigte das Tempo. Das war kein Traum. Genau das mußte der Fahrer tun. So würde er es auch machen, wenn er in einer dunklen verlassenen Straße eine alte Frau überfahren hätte.

Eigentlich hatte er nicht eindeutig gesehen, daß der Cadillac die alte Frau wirklich überfahren hatte. Aber da lag sie auf der Straße, und da fuhr der Wagen. Folglich mußte er sie überfahren haben. Das war doch nur logisch.

Auf jeden Fall zuckte er nicht mit der Wimper. Jetzt fragte es sich nur — sollte er das zweite Rad noch abmontieren oder mit dem einen, das er bereits hatte, verschwinden? Sein Auftrag lautete auf zwei. Er brauchte das Geld. Das kleine Luder, auf das er so scharf war, hatte ihm erklärt, ihre Handfläche müßte geschmiert werden. Handfläche hatte sie zwar nicht gesagt, aber gemeint hatte sie ganz eindeutig Geld — das einzige Schmiermittel für Liebe.

Falls die alte Dame nicht tot war, dann doch in einem Zustand, daß ihr alles gleichgültig sein konnte. Und er würde keine neunzig Sekunden brauchen, um das Rad abzumontieren...

Er bückte sich, um sich an die Arbeit zu machen, als er wieder erstarrte. Die alte Dame hatte sich bewegt. Zunächst hatte er es nur aus dem Augenwinkel bemerkt, aber er riß sofort den Kopf herum.

Langsam stand sie auf. Mit beiden Händen und einem Knie auf dem Pflaster, erhob sie sich. Er konnte sie vor sich hinlachen hören. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken kroch, und auf seiner Kopfhaut begann es zu krabbeln, als wäre sie ein Schlachtfeld voller Läuse. Wenn das so weiterging, wurde sein schwarzes krauses Haar noch so weiß wie gebleichte Baumwolle und so glatt und straff wie der Bart des Heilands.

Er beobachtete die alte Frau. Sein Verstand versuchte das Bild zu verarbeiten, das seine Augen wahrnahmen, als ein zweiter Wagen um die Ecke bog. Er bemerkte ihn erst, als er an ihm vorbeikam.

Es war eine große schwarze Limousine, die mit abgeblendetem Licht fuhr. So dicht raste sie an ihm vorbei, daß es sich anhörte, als hätte ihm jemand plötzlich ins Ohr geblasen.

Die alte Dame hatte inzwischen beide Füße aufs Pflaster gesetzt, kauerte vornübergebeugt wie ein Bär auf allen vieren und wollte sich gerade aufrichten, als die große schwarze Limousine sie ins Kreuz rammte.

Er begriff nicht, wieso er das alles sehen konnte. Die Straße war pechschwarz, die alte Dame schwarz gekleidet, der Wagen schwarz. Aber er sah es. Entweder mit seinen Augen oder mit seinem Verstand.

Er sah die alte Dame durch die Luft segeln, Arme und Beine weit gespreizt, das schwarze Gewand im Luftzug ausgebreitet wie die Schwingen eines atomgetriebenen Vampirs, vollgesogen mit frischem Jungfrauenblut. Sie flog schräg nach links, der schwarze Wagen raste geradeaus weiter. Das schneeweiße Haar der alten Dame flatterte für sich nach rechts auf, wie eine Taube, die vor ihrem Schlag zum Landen ansetzt.

Darüber hinaus waren auf den Vordersitzen der Limousine die dunklen Silhouetten von drei uniformierten Polizisten zu erkennen.

Nun war diesem Burschen der Anblick von Gewalt in vielerlei Erscheinungsformen vertraut. Der schnelle brutale Sprung über den Styx war ihm nichts Neues, die grausigen Scherze des Todes waren ihm nicht unbekannt. Aber was er jetzt sah, rüttelte seinen Verstand durcheinander. Sein Kopf rannte in allen vier Himmelsrichtungen davon, während seine Füße an den Boden gebannt waren wie die eines Tölpels vom Lande in einem Jahrmarktsharem. Er wandte ein paarmal den Kopf, als ob er nach etwas suchte. Wonach, wußte er nicht.

Dann sah er das Rad, das an dem aufgebockten Wagen lehnte. Es war ein Rad mit einem Weißwandreifen.

Er packte das Rad und rannte auf die Convent Avenue zu. Aber das Rad war ihm zu schwer. Er setzte es ab und rollte es vor sich her wie ein Kind einen Reifen.

An dieser Stelle führt die Convent Avenue steil bergab zur 125th Street, Als er die Convent Avenue erreichte, ließ er das Rad die Steigung hinunterlaufen. Das Rad hüpfte über den Rinnstein und beschleunigte sein Tempo, während es bergab rollte. Er hielt Schritt, bis er an die nächste Kreuzung kam. Das Rad sprang vor ihm vom Bürgersteig und rollte über die Fahrbahn. Der Mann kam ins Stolpern, und das Rad gewann einen Vorsprung. Als das Rad auf der anderen Straßenseite gegen den Bordstein stieß, hüpfte es hoch in die Luft, und sobald es wieder den Boden berührte, raste es mit der Beschleunigung eines starken Sportwagens davon.

Der Mann spähte die abfallende Straße hinunter und erkannte unter einer Laterne an der Kreuzung der 126th oder 127th Street zwei Polizisten. Er bremste scharf, schlitterte, um zum Stehen zu kommen, beschrieb dann einen engen Bogen und lief in die Querstraße, die er eben überquert hatte. Danach verschwand er in der Nacht.

Das Rad rollte weiter, schlug den beiden Polizisten die Beine unterm Körper fort, warf eine Frau mit einer Tragtüte voller Lebens mittel um, wurde dabei auf die Fahrbahn hinaus abgelenkt, rollte durch den Verkehr auf der 125th Street, ohne mit einem Auto zu kollidieren, hüpfte über den Gehsteig und schlug polternd durch die zu ebener Erde gelegene Tür eines Wohnhauses, das unmittelbar am Beginn der Convent Avenue stand.

Ein kräftiger, untersetzter Mann in mittlerem Alter mit einer Pelzmütze, einem alten gestopften Pullover, Cordhosen und Filzpantoffeln tauchte gerade aus der hinteren Wohnung auf, als das Rad gegen die Rückwand des Hausflurs krachte. Er warf einen Blick darauf und schaltete sofort. Schnell sah er sich um, und da er niemanden bemerkte, packte er das Rad, schoß damit in seine Wohnung zurück, warf die Tür hinter sich zu und schloß sie ab. Es passierte ihm nicht jeden Tag, daß Manna vom Himmel fiel. - Aus: Chester Himes, Rauhnacht in Harlem (Frankfurt am Main und Berlin 1967, Ullstein # 1137, zuerst 1960 "All shot up")

Nacht Zufall Träume
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