abenstein
Die Raben, Krähen, Adler und andre solche Vögel, welche scharfe
Schnäbel und Klauen haben und von Gott auf den Raub angewiesen sind, sagen die
Leute werden sehr alt und leben wohl zweihundert und dreihundert Jahre, also
viel länger als die ältesten Menschen. Wenn nun ein Rabenpaar hundert Winter
mit einander gelebt und geheckt hat, dann legt es erst den Rabenstein, und,
wie sie sagen, alle zehn Winter einen neuen Stein. Dieser Rabenstein soll nach
der Sage aus den Augen der Diebe herauswachsen, welche die Raben am Galgen ausgehackt
haben; und das müssen die Raben an vielen hundert Dieben gethan haben, ehe sie
einen solchen Wunderstein legen können. Er ist von der Größe einer Wälschen
Nuß oder eines Rabeneies, ganz rund und glatt und feurigroth wie ein Karfunkelstein;
und die Raben legen ihn in der letzten Nacht des Hornungs: denn noch im Winter
legen sie ihre Eier und im ersten Frühling, wann es noch reift und friert, haben
sie schon befiederte Jungen. Es hat aber dieser grausige Wunderstein zwei Eigenschaften:
die erste, daß er in der Nacht leuchtet wie eine Sonne und alles umher hell,
seinen Träger aber unsichtbar macht, so daß sich herrlich mit ihm stehlen läßt:
die zweite, daß er zu Galgen und Rad hinlockt. - Ernst Moritz Arndt,
Märchen aus dem Norden. Frankfurt am Main 1990 (Die Andere Bibliothek 61, zuerst
1818)