Purgativ  Beide waren eben im Begriffe einzuschlafen, als an der Tür gepocht wurde.

Henriette fuhr hoch.

»Wer ist da?«

»So mach doch auf!« krächzte eine häßliche Männerstimme.

»Ah, der von der Polizei.« Henriette ließ sich aus dem Bett gleiten. »Ich muß ihn hereinlassen. Steh auf und setz dich hierher! Es dauert nicht lang.« Sie warf einen Polster hinters Bett, schob, nachdem Béschof leise fluchend dahin gefolgt war, einen Stuhl davor und verhängte ihn mit Kleidungsstücken. Dann öffnete sie.

»Warum läßt du mich so lange warten?«

»Keine Litanei!« befahl Henriette gelassen. »Sei froh, daß ich dich nicht hinauspfeffere.« Da diese Behandlung zu den Bedürfnissen des Klienten gehörte, fügte sie hinzu:

»Ich habe heute keine Minute zu verschenken, du Drecksau!«

»La ferme! Ich lasse mich nicht mehr abspeisen. Jetzt mußt du das Ganze machen.«

Henriette, die vor Schläfrigkeit taumelte, hätte sich am liebsten entrüstet. Doch dazu fehlten ihr die Argumente. Zur Zustimmung aber die Gewißheit der — Möglichkeit.

Der Klient erriet, was in ihr vorging. Seine Hand verließ die Hosentasche und stellte ein Fläschchen, auf dem ›Purgativ Pink‹ zu lesen war, hämisch vor sie hin auf den Tisch.

Béschof vernahm die Vorbereitungen, die ihn höchst merkwürdig däuchten. Und plötzlich hörte er die häßliche Männerstimme wieder: »Ah und gestern hab ich die Anezka Tritt gehabt. Weißt du, das ist die kleine Polin, die wir vor ein paar Tagen bei ›Peignen‹ beobachteten, Boulevard de Belleville . . . Noch, noch, Henriette . . . Jack hat sie aufgespürt, als er die alte Flouche abholte. Anezka wollte aus dem Klosettfenster springen. Das war ein guter Fang. Nihilistin und Hure und Kupplerin und weiß der Kuckuck was noch alles in einer Person. In der Präfektur schimpfte sie herrlich. Da kannst du mit deiner Gueulerie einpacken. Sogar Lépine staunte. Ich war direkt ergriffen. Aber dann sprang sie doch aus dem Fenster. Eine tolle Katze . . . Bitte hierher, Henriette, hierher . . . War sofort tot. Aber glücklicherweise habe ich meine Beziehungen zum Lariboisière. Gestern nacht war ich dort. Und so bekam ich mein Täubchen doch noch. Durch den Leichendiener. Und noch was ganz Besonderes . . . Ah, so ists recht, Riette, Riette ... So konnte ich sie ausnehmen. Mit diesen Händen da. Mit diesen Fingern. Und haute den ganzen Salat in die Pfannen. Herrlich! Ah, es war . . . Aber nachher hatte ich entsetzliche Angst wegen des Leichengifts, wie der Diener sagte. Ich nahm sofort ein Sublimatbad. Zwanzig Francs! Billiger tat ers nicht, der alte Falot. Schließlich, die Sache war es wert. Es war ganz herrlich!«

»Du Dreckspitzel!« heulte Henriette, wirklich angewidert.

Béschof, der atemlos gelauscht hatte, überwand sich erst jetzt, so sehr hatte seine eigene Phantasie ihn gefesselt: er hob den Kopf und sah ...

Dann sank er wie benommen zurück, unfähig, etwas zu denken oder zu tun. Es war ihm, als wäre bereits viel Zeit vergangen, als er miteins Henriettes Gesicht über sich erblickte.

»Das Schwein ist schon fort. Kannst aufstehen.«

Béschof kroch todmüde hervor. Alles roch in übelster Weise. Sein Kopf drehte sich. Er zog sich hastig und unbeholfen an und vergaß, als er aus der Tür eilte, zu grüßen. - Walter Serner, Eros vanné. In: W.S.: Der Pfiff um die Ecke. Zweiundzwanzig Kriminalgeschichten. München 1982 (dtv 1741, zuerst 1925)

 

Purgation

 

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Verwandte Begriffe
Specificum Purgativum
Synonyme
Abführmittel