Punkt B    Ich vermute, daß Punkt B extrem artikuliert ist, aber auf friedliche Weise; ein Ort der Leidenschaft und der Zerstreutheit, in seinem Innersten ungenau, ein Ort, wo sich Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Farbe und Farb-losigkeit miteinander mischen, ohne daß sich daraus je ein un-aushaltbarer Bruch, eine innere Leidenschaft, die in beide unvereinbare Richtungen ginge, ergeben würde. Ich müßte mir den Punkt B wohl als einen riesenhaften Leib vorstellen, der gleichzeitig mehrere Leben lebt, vielleicht manchmal den Zusammenhang verliert, das heißt nicht überall gleich ist, obschon er sich nicht als pflanzlich, tierisch, menschlich oder kristallen definieren läßt; gleichwohl dürfen wir annehmen, daß er langsam und friedlich ist wie die Pflanze, ungestüm und listig wie das Tier, erfinderisch und vernünftig wie der Mensch, rein und schweigsam wie der Kristall. Die dunklen, Unordnung stiftenden Triebe der Liebe und des Hasses durchziehen ihn; Liebe, die einen Teil von sich zum andren Teil wegführt und die vom andren Teil einen Teil zu sich zurückführt; aber Liebe und Haß widersprechen einander nicht noch bekriegen sie sich, und er erfreut sich seiner Liebe zu sich und seines Hasses gegen sich. Er ist beispielsweise aggressiv mit einem Teil, den wir der Bequemlichkeit halber beim Erzählen den linken nennen wollen; sein rechter Teil aber ist friedfertig, versöhnlich und verständnisvoll, so daß die beiden Teile einander begegnen und sich als füreinander notwendig erkennen können. Ein Teil ist vom Thema des Todes fasziniert, aber dieser Teil wird wiederum von einem andren am Leben erhalten, der seinerseits vom liebenswerten Leben spricht; diesem Teil wird der Tod bewußt gemacht von dem Teil, der sich vom Tod faszinieren und betören läßt. Und könnte er wollüstig sein, so wäre er trotzdem keusch; und konnte er töten, so wäre er trotzdem gegen Verwundungen gefeit; und könnte er träumen, so wäre er doch ununterbrochen wach. Der Raum, den dieses Wesen einnimmt, ist tendenziell unbegrenzt; und trotzdem ist dieses Wesen gleichzeitig mit Grenzen versehen und jeglicher Grenzen bar. Ununterbrochen  schreitet  es vorwärts  und ununterbrochen bleibt es stehen; es macht Rast und stürzt doch Hals über Kopf voran; es ist unendlich tief und unendlich selcht; es ist edel und gemein. Zu guter Letzt: es ist und zugleich ist es nicht.   - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997
 

Punkt

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