Punkt A    Ich mußte mich zurückziehen, um einer besonders heimtückischen Verwandlung zu entgehen: wer sich nämlich darauf einläßt, Schlaf zu werden, verschmilzt völlig mit dem Schlaf und, obschon er von den Tieren, die als Bewohner des Schlafes wach sind, bewohnt werden kann, hat er keinerlei Möglichkeit, mit diesen Tieren ins Gespräch zu kommen. Und wen die Tiere besetzen - der Ausdruck ist zwar ungenau, aber nicht unsinnig -, den verlassen sie nie mehr; obwohl ihm kein Leid geschieht, kennt er keinen Weg mehr, weder vorwärts noch zurück. Diese Tiere sind auf ihre Art zwar liebevoll, aber auch hinterhältig, und mitunter kommt mir der Gedanke, ihr Dasein sei dem ähnlich, das man den Toten zuschreibt. Selbstverständlich habe ich keinerlei Informationen über die Ausgestaltung von Punkt A, ja, ich könnte nicht einmal sicher wissen, daß es ihn gibt, wäre nicht dieses Hindernis aus schlummerndem Weiß, welches vermuten läßt, daß es einen Weg zu dem Punkt gibt und man somit jenseits dieses Raumes irgendwo ankommt. Warum dieses Hindernis an jenem Ort - wenn es überhaupt sinnvoll ist, von einem Ort zu sprechen - aufgestellt ist, vermöchte ich nicht zu sagen, kann aber vermuten, daß ich in ein Tier verwandelt würde, ich meine in eins von denen, die ich als wach im Gehäuse des Schlafes definiert habe, wenn ich Mut genug hätte, mich in Schlaf verwandeln zu lassen. Ich kann auch vermuten, der Schlaf wäre die Nahrung jener Tiere, dann würde ich eine Weide für Ungeheuer und nichts weiter. Oder schließlich, daß das Weiße Kenntnis von Punkt A hat und es nicht ertragen kann, daß sich ihm jemand nähert, da dann der Ort des Schlafes, der Tiere und des Weißen nicht mehr imstande wäre fortzubestehen und verschwinden müßte. Aus der Erklärung könnte ich überhaupt kein Merkmal des Punktes A ableiten, außer daß es in ihm keine Tiere des Schlafes gibt und daß die beiden vielleicht einander ausschließen. Der Punkt A ist sicher von großer Würde und Schönheit und vermutlich auf etwas Festes, Unerschütterliches, auf einen herben, irgendwie geometrischen Ort gezeichnet. Ich frage mich, warum ich ihn als herb bezeichnet habe: vielleicht, weil es mir Spaß macht, ein rauhes, beißendes Wort zu verwenden, oder eher, weil ich überzeugt bin, daß die Tiere des Schlafes wild und sanft sein können, der Punkt A aber weder das eine noch das andere ist, sondern eine exakte, systematische Anlage von Formen, samt und sonders geprägt von dem Geist, der jenem Ort innewohnt. Der Punkt A kennt keinen Schlaf, und kein Tier würde es wagen, sich ihm zu nähern. Häufig habe ich mir gesagt, der Punkt A muß beschwerlich und vielleicht menschenunmöglich sein, aber ich frage mich, ob das, was ich suche, nicht gerade etwas Menschen-unmögliches ist, etwas, das mein Profil Lügen straft und meine Hände in Zweifel stellt. Man denke nicht, daß ich nach einem Hochmütigen oder Höchsten trachte, ich trachte nur nach etwas Fremdem, das mich nicht kennt und das ich nicht kenne. Es ist mir bewußt, daß ich ungenau bin, aber mir gebietet weder Angst noch Ärger noch Sehnsucht, sondern einzig und allein mein Anspruch, mich auf einem Weg zu verlaufen, der nicht der Weg des Schlafes ist.

Ich frage mich, ob der Punkt A nicht eine unbewohnte und trotzdem perfekte Stadt sein kann, ein vollkommen organisierter und ausgereifter Punkt der Welt. In dieser Stadt können so viele Häuser sein wie ich Wünsche habe, so viele Kirchen wie ich Konfessionen habe, so viele Gräber wie ich Tode habe. Denn, sowie mir Zutritt zu diesem Ort gestattet würde, würde ich zur Menschenmenge werden und zugleich Einöde bleiben. Ich würde gleichzeitig Einsamkeit und Geselligkeit, Sprechen und Schweigen kennenlernen. An verschiedenen Orten der Stadt wäre es immer früh am Morgen, an anderen immer Abend oder Nacht. In einem Viertel wäre es ständig oder abwechselnd Frühling, und ein anderes bliebe in einem friedvollen, klaustrophilen Winter versunken. Als Menschenmenge würde ich alles gleichzeitig erleben: Jahreszeiten, Tageszeiten, Speisen, Wachen, Schlafen, Geburten, Sterben, Bekenntnisse und Verschwiegenheiten. Trotzdem kann ich nichts anderes tun, als meine Hypothesen über den Punkt A hegen und pflegen und dessen Gestalt von dem Hindernis ableiten, welches das Weiße, der Schlaf und die im Gehäuse des Schlafes wachen Tiere darstellen. Ich brauche mir nur die Fläche des Punktes A zu beschreiben, und schon atme ich tief und endgültig auf. Aber der Punkt A bleibt unerreichbar.   - Giorgio Manganelli, Kometinnen und andere Abschweifungen. Berlin 1997

Punkt

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