sychose, kriminelle  In uns Allen stekt heute noch Storch, stekt Carlstadt, stekt Luther, steken die Wiedertäufer, stekt Thomas Münzer, stekt Hutten und steken alle die Andern. Diese geistige Ahnen-Reihe vererbt mit fast sicherer Unabänderlichkeit und Schiksalsschwere ihr unheimliches Ferment, als das edle blaue Blut unter dem Adel, das hochfürstliche, gottbegnadete Blut unter den Monarchen, oder das gemeine rote Blut unter den Bürgern und Arbeitern, nach der fisischen Seite hin sich fortsezt. Diese grosse Fänomenologie des Geistes, dieses unabänderliche Karma der Weltgeschichte, welche von geistiger Tat zu geistiger Tat rechnet, ist unauslöschlich, ist ein verzehrendes Feuer und geht von Jesaia bis Nietzsche.

Hier muss also die Polizei eingreifen. — In der Vergangenheit ist Nicht-Mehr-Gutzumachendes geschehen. — Aber in der Gegenwart, heute, wo der kranke Zustand solch' frevelnder Köpfe mit Hilfe der Wissenschaft deutlich nachgewiesen werden kann, muss die Obrigkeit, muss die Staatsanwaltschaft, müssen die Fürsten, muss der Staat, muss die Regierung mit starker Hand eingreifen, diese kranken Keime — in Badewannen oder sonstwie — eliminiren, um die grosse Masse intakter, monarchischer Hirne vor dem Zersezungsprozess zu bewahren. —

Die psichopatia criminalis zieht sich wie ein roter Faden durch alle revoluzjonären Bewegungen des Altertums wie der Gegenwart.  Sie stekte in Harmodius und Aristogeiton, sie stekte in Kleon dem Gerber, sie wühlte in dem jeder sitlichen Basis entbehrenden Aristophanes, und sie ward in dem von einem fabelhaften Ehrgeiz getriebenen Sokrates manifest. Alle diese falschen Idealisten, die immer nur an sich denken, und dabei das Volk vorschieben, sind kriminelle Psichopatiker. Psichopatia criminalis war es, was die Plebejer auf den mons sacer hinauftrieb, sie beseelte die Gracchen, und sie entzündete den frevlen Mut eines Catilina und Brutus. Psichopatia criminalis war es, was den verwegenen Arnold von ßrescia sich gegen die gottgeheiligte Majestät des unbeflekt empfangenen Papstes auflehnen liess, was Wicliff und Hus revoltirte, was Savonarola den Verstand raubte, was in Luther wütete, was die gesamten sektirerischen Geister im sechzehnten Jahrhundert ausser Rand und Band brachte. Das herliche deutsche Volk war dank der grossen Resistenzkraft seiner monarchisch gebauten Nervenfasern lange Zeit von der schreklichen Krankheit verschont, bis wälsche Einflüsse, besonders von Frankreich her, auch hier Bresche legten, und das ahnungsloseste Gemüt, das auf der Welt existirt, endlich ebenfalls über sich nachzudenken begann. Denken ist immer eine schlimme Sache. - Oskar Panizza, Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. Hilfsbuch für Ärzte, Laien, Juristen, Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister etc. zur Diagnose der politischen Gehirnerkrankung. München 1985 (Matthes & Seitz Debatte 21, zuerst 1898)


Wahnsinn

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