sychophagie
Unter Psychophagie verstehe ich die spezifische psychische Wirkung
einer bestimmten Speise oder Speisenfolge; sie ist nützlich für jeden,
der zu Depressionen, Angst, innerer Unruhe, zu
Manien, Delirium und Paranoia neigt und - insbesondere
eilfertig und wahllos - zum Mord oder Selbstmord
tendiert. Ich kenne kein Ansiolitikum - und das ist die reine Wahrheit
-, das dem peperoncino vergleichbar wäre, welches züngelnd und beißend
euer Schweifituch in einen tadellosen Gehrock mit Blume im Knopfloch verwandelt.
Zarte, unsichere Seelen werden schon nach einer einfachen, großzügig mit
peperoncino gewürzten, leicht vulgären pasta nahezu keck. Ein lesso misto*
mit süß-sauren Senifrüchten aus Cremona verleiht reife Gelassenheit und
das Gefühl eines Familienvaters, dessen zahlreiche Kinder alle in festen,
sicheren Positionen im Leben stehen. Das Wiener Schnitzel wirkt nur gut,
wenn es irgendwo eingereiht ist: mitten in der Woche geht beispielsweise
eine ruhige Entspannung und die Überzeugung von ihm aus, das Ende der Welt
gehe uns nichts an. Ein Omelett kann einen zu Tränen rühren, zugleich aber
soviel kindliche Wärme und zärtliche Geborgenheit vermitteln, daß wir das
stürmische Kap einer Nacht rauhester Einsamkeit zu umsegeln vermögen. Die
Mordlust weist man durch grobe, würzige Speisen von sich: Schinkenknochen
und die göttlichen Schwarten mit weißen oder braunen Bohnen, letztere lenken
auch von Selbstmordgedanken ab, aber vielleicht eignen sich zu diesem Zweck
noch besser einsehmeichelndere Geschinacksnuancen, feines, schmeichlerisches,
mit elegantem Ungestüm gewürztes Wildbret.
Natürlich Weine, keine guten, sondern nur beste, langsam zu schlürfen,
nicht hinunterzuschütten; denn nicht immer befreit der Wein von Sorgen
und Plagen, sondern läßt sie uns gelegentlich in wahrhaft königlicher Unbarmherzigkeit
noch stärker empfinden und in uns Wurzel fassen. Den Niedergeschlagenen
jedweder Art verabreiche man Rotwein;
Weißwein den Schwärmern, den Besessenen, den finsteren Geistern. Und auf
jeden Fall und unter allen Umständen peperoncino. Nicht zufällig fürchten
die Vampire den Knoblauch; wer ihn liebt, besitzt
ein chthonisches Amulett, eine Alraunwurzel aus dem Herzen der Erde, das
ihm die nächtlichen Vögel seiner geheimsten Kümmernisse vertreibt. Schlau
ist die Zwiebel und lustig und frech; voll Hochmut der Rettich, sublim
der Lauch, sie alle taugen für Gehirne, denen
Sonette und Terzinen einfallen können. Dem Melancholiker
bitte kein Bier; ein Dichter aus dem 13. Jahrhundert nennt es - sektiererisch
- ein »fauliges Getränk«.
* verschiedene Sorten gekochtes Fleisch (Rind, Kalb, Huhn) und Kalbs-
oder Rindszunge. -
(man)