Preisgabe    Der Dichter genießt das unvergleichliche Vorrecht, nach seinem Belieben er selbst und ein anderer sein zu können. Wie jene irrenden Seelen, die sich einen Körper suchen, geht er, wenn er nur will, in das Wesen jedes Menschen ein. Ihm allein steht alles offen; und wenn manche Plätze ihm verschlossen zu sein scheinen, so nur deshalb, weil sie ihm einen Besuch nicht zu lohnen scheinen.

Der einsame und nachdenkliche Wanderer schöpft einen einzigartigen Rausch aus solcher Verbundenheit mit dem Allgemeinen, Der Mensch, der leicht in der Menge aufgeht, kennt Fieberschauer von Genüssen, um die der selbstsüchtige Ichmensch, verschlossen wie ein Schrein, und der Träge, eingekapselt wie ein Muscheltier, ewig betrogen sind. Er macht sich alle Berufe, als wären es die seinigen, zu eigen, alle Freuden und alles Elend; wie die Umstände es ihm bieten.

Das, was die Menschen Liebe nennen, ist sehr gering, sehr beschränkt und sehr schwach, verglichen mit jenem unsagbaren Rausch, jener heiligen Preisgabe der Seele, die sich ganz und ungeteilt, als Dichtung und barmherzige Liebe, dem Unverhofften, das sich darbietet, dem Unbekannten, das vorübergeht, verschenkt.

Es ist gut, den Glücklichen dieser Welt von Zeit zu Zeit beizubringen, und wäre es nur, um ihren albernen Stolz für einen Augenblick zu erniedrigen, daß es Glückserfahrungen gibt, die höher sind als die ihrigen, unermeßlicher, und verfeinerter. Die Begründer von Kolonien, die Hirten der Völker, die Missionsprediger in ihrer Verbannung am anderen Ende der Welt, sie wissen zweifellos etwas von diesen geheimnisvollen Trunkenheiten, und mitten im Schoß der unermeßlichen Familie, die ihre Geisteskraft ihnen geschaffen hat, lachen sie wohl manchmal derer, die sie beklagen wegen ihres so unruhig bewegten Geschicks und wegen ihres so keuschen Lebens.   - Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris. In: C.B., Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Zürich 1977

Geben

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme