Alexandra
Rigos, Der Spiegel 53/1998
Polyp
(2)
Die Polypen haben einen gewaltigen
Magen, und ihre Fähigkeit, alles beliebige zu fressen, ist unübertroffen. So
kommt es, daß sie oftmals nicht einmal voreinander haltmachen: Wird ein kleiner
Polyp von einem größeren gefangen und gerät in dessen kräftigere Fangnetze —
sie heißen bei diesem Fisch Tentakel —, wird er von ihm aufgefressen. Die Polypen
lauern den Fischen auch auf folgende Weise auf: Unbeweglich verweilen sie unter
den Klippen, nehmen deren Farbe an und scheinen so mit den Klippen eins zu sein.
Schwimmen nun die Fische achtlos auf die Polypen
zu, in der Meinung, es seien Klippen, umschlingen diese sie mit ihren Netzen,
besser gesagt, mit ihren Fangarmen. -
(
ael
)
Polyp
(3)
Wie soll
man sich vor den hundert Armen des Polypen retten? Ihn unter seinen zahlreichen
Achseln kitzeln. - Ramón Gómez de la Serna, Der
Traum ist ein Depot für verlegte Gegenstände. Greguerías. Berlin 1989
Polyp
(4)
Endlich,
an einem angemessen sherlock-holmeshaften Londoner Abend, roch Pirat den unverwechselbaren
Gasgeruch einer erloschenen Straßenlaterne, und aus dem Nebel vor ihm materialisierte
sich ein gigantisches, organartiges Gebilde. Vorsichtig setzte Pirat einen schwarzbeschuhten
Fuß vor den anderen und näherte sich dem Ding. Dieses
begann, ihm entgegenzukriechen, langsam wie eine Schnecke, wobei es eine schleimige
Lichtspur hinter sich auf dem Kopfsteinpflaster zurückließ, die unmöglich vom
Nebel stammen konnte. Pirat, der schneller war, erreichte den Treffpunkt in
der Mitte als erster. Entsetzt prallte er zurück - doch solche Augenblicke des
Erkennens lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Das Gebilde war ein gigantischer
Polyp, ein Rachengewächs! Mindestens so groß wie die St.-Pauls-Kathedrale! Und
es wuchs von Stunde zu Stunde. London, vielleicht sogar ganz England, war in
tödlicher Gefahr!
Das lymphoide Monstrum hatte einst die distinguierte Pharynx von Lord Blatherard Osmo blockiert, der zu jener Zeit Beauftragter für Novi Pazar im Foreign Office war - eine stille Buße für ein vergangenes Jahrhundert britischer Orientpolitik, denn von diesem obskuren Sandschak hatte einst das Schicksal von ganz Europa abgehangen:
Wer weiß-schon, wo dieses Kaff-über-haupt-ist,
Und so-was startet dann
so-einen-Mist!
Die Montenegriner, und auch die Serben,
Sie warten nur-drauf,
daß sie was erben, o Honey-
Pack mein Kanzel und bürst meinen Rock,
Und
entzünd mir 'ne fette Zigarr -
Willste meine Adreß,
Schreib nur: Orient-Expreß,
Zum Sandschak von Novi Pazar!
Auftritt Revuegirls, lauter saftige, junge Weiber, die mit Husarenkalpaks
und aufreizenden Reitstiefeln ausstaffiert sind und nun ein wenig herumtanzen,
während in einer anderen Abteilung Lord Blatherard Osmo von seinem eigenen,
wuchernden Rachenpolypen Immer weiter assimiliert wird - eine grausige Verwandlung
von Zellplasma, der die gesamte edwardianische Medizin einigermaßen ratlos gegenübersteht...
bald ist das Straßenbild von Mayfair mit Zylinderhüten übersät, im East End
hängt billiges Parfüm körperlos zwischen den Pubschildern, und das Adenoid setzt
seinen Beutezug fort. Es verschluckt seine Opfer nicht aufs Geratewohl, nein,
das tückische Adenoid folgt einem Generalstabsplan: es sucht sich nur
bestimmte Persönlichkeiten aus, die ihm nützlich sein können - eine neue Gnadenwahl
grassiert in England, scheidet Erwählte von Übergangenen, stürzt das Home Office
in hysterische und peinvolle Perioden der Unentschlossenheit... keiner weiß,
was geschehen soll .. .man macht einen halbherzigen Versuch, London zu evakuieren,
schwarze Phaetons rattern in dichten Ameisenzügen über die Gitterbrücken, Beobachtungsballons
werden am Himmel stationiert, «Ich hab's in Hampstead Heath, es sitzt einfach
da und atmet... immer ein, und aus ...» «Irgendein Geräusch
dort unten?» «Ja, es ist grauenhaft... wie eine monströse Nase,
die Rotz hochzieht ... Augenblick mal, jetzt ... beginnt
es zu ... nein, nein ... o Gott, ich kann es nicht beschreiben, es ist zu gräß-»
der Draht reißt, Ende der Übertragung, ein Ballon steigt in den federblauen
Morgen. Aus den Cavendish-Laboratorien eilen Techniker herbei, überziehen die
Heide mit riesigen Magneten, mit Lichtbogenelektroden, schwarzen, eisernen Armaturentafeln
voller Skalen und Kurbeln, die Armee marschiert in voller Gefechtsausrüstung
auf, bringt Mörsergranaten mit dem neuesten tödlichen Kampfgas zum Einsatz -
das Adenoid wird versengt, elektrogeschockt, vergiftet, es verändert hier und
da seine Farbe und seine Form, gelbliche Fettgeschwülste zeigen sich hoch über
den Baumkronen ... vor den Magnesiumblitzen der Pressephotographen stülpt sich
ein scheußlicher grüner Auswuchs auf den Truppenkordon
zu und schlurrph! begräbt einen kompletten Beobachtungsposten unter einer
Sintflut von ekelerregendem orangefarbenem Schleim, der die unglücklichen Männer
bei lebendigem Leibe verdaut - aber
sie schreien nicht, nein, tatsächlich, sie lachen, es macht ihnen Spaß
... - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei
Hamburg 1981
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