Polieren  Sieh! Dort ist eine Höhlung in der hinteren Wand, dicht unter dem Dach, in doppelter Mannshöhe. Es ist eine schmale und hohe Nische, nicht wahr? - als ob jemand sie mit einem Eisen geschlagen hätte, und ein Mann kann darin sitzen, wenn er die Beine herabhängen läßt. Ja, Umslopogaas, und ein Mann saß darin, oder das, was einmal ein Mann gewesen war. Dort saßen die Knochen eines Mannes, zusammengehalten von seiner verdorrten, schwarzen Haut, und es war ein schrecklicher Anblick. In seiner Hand hielt er ein Stück Fell von seiner Moocha. Es war zur Hälfte aufgegessen, Umslopogaas; er hatte es gegessen, bevor er starb. Seine Augen waren ebenfalls mit einem Fellstück seiner Moocha verbunden, als ob er sie vor einem unerträglichen Anblick hatte schützen wollen. Einer seiner Füße war fort, der andere hing über den Rand der Nische, und unter ihm auf dem Boden lag die Klinge seines zerbrochenen Speers, rot vor Rost.

Tritt jetzt näher, Umslopogaas, und lege deine Hand auf diese Wand; sie ist völlig glatt, nicht wahr? - so glatt, wie die Steine, mit denen die Frauen das Korn mahlen.

›Was hat sie so glatt gemacht?‹ wirst du fragen. Ich werde es dir sagen.

Als ich durch den Eingang in die Höhle blickte, sah ich dies: Auf dem Boden der Höhle lag eine Wölfin, und sie hechelte, als ob sie viele Meilen gelaufen sei; sie war groß und wild. In ihrer Nähe war ein anderer Wolf - es war ein Rüde -, alt und schwarz, und größer als alle anderen Wölfe, die ich jemals gesehen hatte, und sein Kopf und seine Flanken waren grau gestreift. Doch dieser Wolf stand auf seinen Beinen. Als ich in die Höhle trat, war er in der Nähe des Eingangs, doch plötzlich schnellte er los, zur Rückwand der Höhle, und sprang an ihr empor; er schnappte nach dem verdorrten Fuß des Toten, der aus der Nische hing. Seine Pfoten prallten gegen die Wand, dort, wo sie glatt ist, und er schien eine Sekunde lang an ihr zu kleben, während seine gewaltigen Kiefer sich krachend schlössen - doch gut eine Speerbreite unter dem herabhängenden Fuß des Toten. Mit einem Wutgeheul trabte er wieder zurück, um einen neuen Anlauf zu nehmen, und wieder sprang er nach dem Fuß des Toten, und seine Kiefer schlossen sich dicht unter ihm, und heulend fiel er wieder zu Boden. Jetzt erhob sich die Wölfin, und sie versuchten gemeinsam, den Toten aus seiner Nische zu reißen, aber es war alles vergeblich; sie verfehlten immer wieder den herabhängenden Fuß, und ihre Kiefer kamen ihm nie näher als eine Speerbreite. Nun weißt du, Umslopogaas, warum der Stein dort so glatt und glänzend ist. Monat um Monat, und Jahr um Jahr sind die Wölfe in ihrer Gier an ihr emporgesprungen, um die Knochen von dem zu fressen, der dort gesessen hat. Nacht für Nacht sind sie an der Wand der Höhle emporgesprungen, aber ihre zupackenden Kiefer konnten sich nie um den zweiten Fuß des Toten schließen. Einen Fuß hatten sie abreißen können, doch den zweiten bekamen sie nicht.  - Henry Rider Haggard, Nada die Lilie. München 1980 (zuerst 1892)

Polieren (2)

 

Glanz Reibung Bearbeiten

 

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