ilz

Alice betrachtete den Pilz eine Zeitlang nachdenklich, um herauszubringen, wo er wohl seine Seiten hätte; und da er vollkommen rund war, erschien ihr diese Frage nicht ganz leicht. Schließlich aber umfaßte sie ihn mit beiden Armen, so weit sie konnte, und brach mit jeder Hand ein kleines Stück vom Rande ab.

»Gut; aber was tut nun was?« fragte sie sich und knabberte versuchsweise an dem Stück in ihrer Rechten; aber im selben Augenblick bekam sie auch schon einen heftigen Schlag unters Kinn - sie war damit an ihrem Fuß aufgeprallt!

Uber diese plötzliche Veränderung war sie sehr erschrocken, aber gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als sei jetzt keine Zeit mehr zu verlieren, denn sie schrumpfte noch immer zusehends weiter; so ging sie also daran, etwas von dem anderen Stück abzubeißen.

Ihr Kinn drückte sich nun schon so fest gegen den Fuß, daß sie den Mund kaum noch aufbrachte; aber schließlich gelang es ihr doch, und ein kleines Krümelchen aus ihrer Linken glitt ihre Kehle hinab.

 

»So! Nun habe ich doch wenigstens den Kopf frei! « rief Alice voller Fröhlichkeit aus, die jedoch alsbald in Beängstigung umschlug, als sie ihre Schultern nirgends mehr entdecken konnte: so weit das Auge auch in die Tiefe reichte war da nur ein unendlicher Hals zu sehen, der wie ein Stengel weit unten aus einem grünen Blättermeer aufzusteigen schien.

»Was ist das nur für ein grünes Zeug ?« sagte Alice. »Und wo in aller Welt sind denn meine Schultern geblieben? Und meine Hände, ach! wie kommts, daß ich euch nicht mehr sehen kann ?» Und während sie dies sagte, fuchtelte sie mit ihnen umher, aber außer einem leichten Schwanken in dem fernen Blättergrün hatte das anscheinend keine Wirkung.

Da ihre Hände offenbar nicht mehr bis zu ihrem Kopf heraufreichten, wollte sie sehen, ob sie nicht umgekehrt mit dem Kopf zu den Händen hinablangen konnte, und bemerkte zu ihrer Freude, daß sich ihr Hals ganz leicht nach allen Seiten krümmen ließ wie eine Schlange. Es war ihr eben gelungen, ihn mit einem anmutigen Schwung nach unten zu biegen, und schon wollte sie damit unter das Laub tauchen (das nichts anderes war als die Baumwipfel, unter denen sie gerade noch spazieren gegangen war), als ein heftiges Schwirren sie eilig zurückfahren ließ: eine große Taube war ihr ins Gesicht geflogen und schlug heftig mit ihren Flügeln auf sie ein.

»Schlange!« schrie die Taube.

»Ich bin keine Schlange! » sagte Alice aufgebracht. »Laß mich in Ruhe!« 

 

 - Lewis Carroll, Alice im Wunderland (Insel-Bücherei 896, zuerst 1865)

Pilz (2)  Nunmehr begann der Pilz zu wirken; der Frühlingsstrauß glühte stärker, das war kein natürliches Licht. In den Ecken regten sich Schatten, als ob sie Gestalt suchten. Mir wurde beklommen, auch fröstelig, trotz der Hitze, die von den Kacheln ausströmte. Ich streckte mich auf das Sofa, zog die Decke über den Kopf.

Alles war Haut und wurde angetastet, auch die Retina - dort wurde die Berührung Licht. Dieses Licht war vielfarbig; es ordnete sich zu Schnüren, die sanft hin- und herschwangen, zu Glasperlenschnüren orientalischer Eingänge. Sie bilden Türen, wie man sie im Traum durchschreitet, Vorhänge der Lust und Gefahr. Der Wind bewegt sie wie ein Gewand. Sie fallen auch von den Gürteln der Tänzerinnen nieder, öffnen und schließen sich im Schwung der Hüften, und aus den Perlen weht ein Geriesel feinster Töne den geschärften Sinnen zu. Das Klingen der Silberreifen an den Fesseln und Handgelenken ist schon zu laut. Es riecht nach Schweiß, Blut, Tabak, gehackten Pferdehaaren, billigem Rosenöl. Wer weiß, was in den Ställen getrieben wird.

Es mußte ein riesiger Palast sein, mauretanisch, kein guter Ort. An diesen Tanzsaal schlössen sich Nebenräume, Fluchten bis in den Untergrund. Und überall die Vorhänge mit ihrem Glitzern, ihrem Funkeln - radioaktives Gegleiß. Dazu das Geriesel gläserner Instrumente mit ihrem Locken, ihrem buhlenden Werben: »Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?« Bald hörte es auf, bald kam es wieder, zudringlicher, eindringlicher, des Einverständnisses fast schon gewiß.

Nun kam Geformtes - historische Collagen, die Vox humana, der Kuckucksruf. War es die Hure von Santa Lucia, die aus dem Fenster die Brüste vorstreckte ? Dann war die Heuer futsch. Salome tanzte; die Bernsteinkette sprühte Funken und stellte im Schwingen die Brustwarzen auf. Was tut man nicht für seinen Johannes? - verdammt, das war eine üble Zote, das kam nicht von mir, war durch den Vorhang geraunt.

Die Schlangen waren kotig, kaum lebendig, sie wälzten sich träge über die Fußmatten. Sie waren mit Brillantsplittem gespickt. Andere lugten mit roten und grünen Augen aus dem Plafond. Es glitzerte und wisperte, es zischelte und blinkte wie winzige Sicheln beim Bilwisschnitt. Dann schwieg es und kam von neuem, leiser, zudringlicher. Sie hatten mich in der Hand. »Da verstanden wir uns gleich.«

Madame kam durch den Vorhang; sie war beschäftigt, ging, ohne mich zu beachten, an mir vorbei. Ich sah die Stiefel mit den roten Absätzen. Strumpfbänder schnürten die dicken Schenkel in der Mitte; das Fleisch hing drüber weg. Die ungeheuren Brüste, das dunkle Delta des Amazonas, Papageien, Piranhas, Halbedelsteine überall.

Sie ging jetzt in die Küche - oder gab es noch Keller hier? Das Glitzern und Wispern, das Zischeln und Blinken war nicht mehr zu unterscheiden; es wurde, als ob es sich konzentrierte, nun hoch frohlockend, erwartungsvoll.

Es wurde heiß und unerträglich; ich warf die Decke ab. Das Zimmer war matt erleuchtet; der Pharmakolog stand am Fenster im weißen Mandarinenkittel, der mir noch vor kurzem in Rottweil beim Narrensprung gedient hatte. Der Orientalist saß neben dem Kachelofen; er stöhnte, als ob ihn der Alp drücke.

Ich war im Bilde; es war ein Schub gewesen, und er würde gleich wieder einsetzen. Die Zeit war noch nicht um. Das Mütterchen hatte ich schon anders gesehn. Aber auch Kot ist Erde, zählt wie das Gold zu den Verwandlungen. Damit muß man sich abfinden, solange es bei der Annäherung bleibt. - Ernst Jünger, Annäherungen. Frankfurt am Main u. a. 1980 (Ullstein-Tb. 39003, zuerst 1970)

Pilz (3)  Der Apotheker von Taxham wußte mit dem ersten Blick oder Antasten, oder spätestens mit dem Beschnuppern und Beknabbern, was man ihm da angebracht hatte (manche kaum unterscheidbaren Arten erkannte er allein an den jeweils verschiedenartigen Würmern, Schnecken, Ohrenschleichern, Spinnen auf und in ihnen). Und vor allem war er über jeden der ihm vorgelegten Pilze begeistert, auch wenn nur ein paar Lamellen davon, angeklebt an der Kinderhand dort und dann unbedacht in den Mund gewischt, vielleicht Schlimmes anrichten konnten, auch wenn der fragliche Pilz stank und nach allen Seiten zerrann wie ein Drei-Wochen-Aas.

»Oft denke ich, ob nicht auch meine Pilzleidenschaft mich und meine Frau auseinandergebracht hat«, sagte er. »Vor allem im Herbst, wenn ich am Abend nach Hause kam, waren meine sämtlichen Mantel- und Anzugtaschen voll davon, dann auch der Kühlschrank, die Speisekammer, selbst der Keller, wo sich die Pilze mit ihrem Aroma ja am besten erhalten. Tagtäglich mußte sie mit mir meine Pilze essen — es gibt ja viel mehr eßbare Arten, als man denkt, und das bis tief in den Winter hinein. Natürlich habe ich mit der Zeit das Haus damit verschont, aber auch aus dem Garten, wohin ich sie dann vor ihr versteckte — sollte ich die Pilze denn wegwerfen, diese Naturgaben, diese Herrlichkeiten? —, leuchteten und rochen sie unverkennbar unter den Sträuchern und aus den Baumlöchern heraus, am ärgsten, wie ein Hundekadaver, die Stinkmorchel, die doch in jungem Zustand, taubeneigroß, eine noch nirgends beschriebene Delikatesse ist, rohgeschnitten, zum Beispiel mit Salz und Olivenöl!« - Peter Handke, In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt am Main 1999 (st 2946, zuerst 1997)

Pilz (4)  

- N. N.

Gewaechs Rauschmittel
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