hysiognom
Erst die kleine Bar am Hafen. Ich war schon grade wieder im Begriffe,
ratlos kehrt zu machen, denn auch von dort schien ein Konzert und zwar ein Bläserchor
zu kommen. Gerade daß ich mir noch Rechenschaft davon geben konnte, das sei
nichts anderes als das Geheul der Autohupen. Auf dem Wege zum vieux port schon
diese wundervolle Leichtigkeit und Bestimmtheit im Schritt, die den steinigen,
unartikulierten Erdboden des großen Platzes, über den ich ging, mir zum Boden
einer Landstraße machte, über die ich, rüstiger Wanderer, bei Nacht dahinzog.
Denn die Cannebière vermied ich um diese Zeit noch, meiner regulierenden Funktionen
nicht ganz sicher. In jener kleinen Hafenbar begann dann der Haschisch seinen
eigentlich kanonischen Zauber mit einer primitiven
Schärfe spielen zu lassen, mit der ich ihn vordem wohl noch kaum erlebte. Nämlich
er machte mich zum Physiognomiker, zumindest zum Betrachter von Physiognomien,
und ich erlebte etwas in meiner Erfahrung ganz Einziges: ich verbiß mich förmlich
in die Gesichter, die ich da um mich hatte und die
zum Teil von remarkabler Roheit oder Häßlichkeit waren. Gesichter, die ich gemeinhin
aus einem doppelten Grunde gemieden hätte: weder hätte ich gewünscht, ihre Blicke
auf mich zu ziehen, noch hätte ich ihre Brutalität ertragen. Es war ein ziemlich
weit vorgeschobener Posten, diese Hafenkneipe. (Ich glaube, der äußerste, der
mir ohne Gefahr noch zugänglich war und den ich hier, im Rausche,
mit derselben Sicherheit ermessen hatte, mit der man, tief ermüdet, ein Glas
mit Wasser so genau randvoll und daß kein Tropfen überfließt, zu füllen weiß,
wie man mit frischen Sinnen es niemals zustande bringt.) Immer noch weit genug
entfernt von der Rue Bouterie, aber doch saß da kein Bourgeois; höchstens neben
dem eigentlichen Hafenproletariat ein paar Kleinbürgerfamilien aus der Nachbarschaft.
Ich begriff nun auf einmal, wie einem Maler — ist es nicht Rembrandt geschehen
und vielen anderen? - die Häßlichkeit als das wahre
Reservoir der Schönheit, besser als ihr Schatzbehälter,
als das zerrissene Gebirge mit dem ganzen inwendigen Golde des Schönen, erscheinen
konnte, das aus Falten, Blicken, Zügen herausblitzte.
Besonders erinnere ich mich an ein grenzenlos tierisches und gemeines Männerantlitz,
aus dem mich plötzlich die »Falte des Verzichts« erschütternd traf. Männergesichter
waren es vor allem, die es mir angetan hatten. Es fing nun das lang ausgehaltene
Spiel an, daß in jedem Antlitz mir ein Bekannter auftauchte; oft wußte ich seinen
Namen, oft wieder nicht; die Täuschung schwand, wie im Traume
Täuschungen schwinden, nämlich nicht beschämt und
kompromittiert, sondern friedlich und freundlich wie ein Wesen, das seine Schuldigkeit
getan hat. Unter diesen Umständen konnte von Einsamkeit
keine Rede mehr sein. War ich mir selbst Gesellschaft? Das wohl denn doch nicht
so unverstellt. Ich weiß auch nicht, ob es mich dann so hätte beglücken können.
Sondern wohl eher dieses: ich wurde mir selber der gewiegteste, zarteste, unverschämteste
Kuppler und führte mir die Dinge mit der zweideutigen
Sicherheit dessen zu, der die Wünsche seines Auftraggebers
aus dem Grunde kennt und studiert hat.
- Walter Benjamin, Haschisch in
Marseille, nach (
ben3
)
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