hänomen   Das Phänomen (griechisch: phainomenon) bezeichnete ursprünglich ein Himmelsereignis, eine »Erscheinung« (griechisch: phainesthai, erscheinen). Der griechische Grundsatz für die Erkenntnis der Welt, »die Erscheinungen zu retten«, könnte auch bedeuten, »die Erscheinungen zu wahren«, also eine Theorie nicht zu akzeptieren, deren Inhalt nicht mit den Beobachtungsdaten übereinstimmt.

In der Folgezeit präzisierte die philosophische Sprache den Begriff des Phänomens dahingehend, dass er alles bezeichnete, »was in der Beobachtung der Welt wahrnehmbar ist«. Dank unserer fünf Sinne baden wir in einer Welt der Phänomene.  - (thes)

Phänomen (2)  Seine Großmutter lag allein in einem Zimmer auf der Intensivstation. Das schneeweiße Bettlaken ließ ihre Arme und Schultern frei; es fiel ihm schwer, den Blick von dem entblößten, faltigen, bleichen, furchtbar alten Fleisch abzuwenden. Ihre mit einem Tropf verbundenen Arme waren mit Gurten am. Bettrand befestigt. In ihrer Kehle steckte ein geriffelter Schlauch. Kabel, die an Aufzeichnungsgeräte angeschlossen waren, kamen unter dem Laken hervor. Man hatte ihr das Nachthemd ausgezogen; man hatte ihr nicht ermöglicht, das Haar zu einem Knoten zu stecken, wie sie es seit Jahren jeden Morgen tat. Mit ihrem offenen langen grauen Haar war sie nicht mehr ganz seine Großmutter; sie war eine arme Kreatur aus Fleisch, sehr jung und sehr alt zugleich, die jetzt der Medizin ausgeliefert war. Michel ergriff ihre Hand; nur diese Hand erkannte er wirklich wieder. Er hatte oft ihre Hand ergriffen, hatte es noch vor kurzer Zeit getan, als er schon über siebzehn war. Ihre Augen öffneten sich nicht; aber vielleicht spürte sie trotz allem seine Berührung. Er drückte ihre Hand nicht sehr fest, nahm sie nur in die seine, wie er es immer getan hatte; er hoffte sehr, daß sie seine Berührung erkennen würde.

Diese Frau hatte eine furchtbare Kindheit erlebt, schon mit sieben Jahren mußte sie umgeben von trunksüchtigen, halb verrohten Männern auf dem Bauernhof mitarbeiten. Ihre Jugend war so kurz gewesen, daß sie sich kaum daran erinnern konnte. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie in der Fabrik gearbeitet und dabei gleichzeitig ihre vier Kinder aufgezogen; mitten im Winter mußte sie nach draußen gehen, um Wasser zu holen, damit ihre Kinder sich waschen konnten. Mit über sechzig Jahren, kurz nachdem sie in Rente gegangen war, hatte sie sich bereit gefunden, sich noch einmal um ein kleines Kind zu kümmern - den Sohn ihres Sohnes. Ihm hatte es auch an nichts gefehlt - weder an sauberer Kleidung, noch an gutem Essen am Sonntagmittag, noch an Zuneigung. All das hatte sie in ihrem Leben getan. Eine auch nur annähernd vollständige Studie der Menschheit muß zwangsläufig diese Art von Phänomenen berücksichtigen. Solche Menschen hat es in der Geschichte gegeben. Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet, hart gearbeitet haben, und das nur aus Hingabe und Liebe; Menschen, die ihr Leben aus Hingabe und Liebe den anderen buchstäblich geschenkt haben; und die dennoch keineswegs den Eindruck hatten, sich aufzuopfern; und die sich in Wirklichkeit keine andere Lebensweise vorstellen konnten, als ihr Leben aus Hingabe und Liebe den anderen zu schenken. In der Praxis waren diese Menschen im allgemeinen Frauen.  - Michel Houellebecq, Elementarteilchen. München 2001 (zuerst 1998)

Erscheinung Beobachtung
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