flanzengeduld
Mit demselben Rechte, als man sagt, daß die Men> sehen und Tiere die Früchte
des Feldes essen und fressen, kann man in der Tat sagen, daß die Früchte des
Feldes die Menschen und Tiere wieder fressen; denn alles, was von Menschen und
Tieren abgeht, geht wieder in die Pflanzen über und muß in sie übergehen, damit
sie wachsen und gedeihen. Sie zerreißen den Menschen nur nicht so bei lebendigem
Leibe, wie wir es mit ihnen tun. Sie warten auf das, was von uns abgeht, bis
es zu ihnen kommt, erwarten unsern Tod, ehe sie sich ganz unsrer bemächtigen.
Diese Geduld wird ihnen nun als träge Unempfindlichkeit und tote Passivität
ausgelegt; aber mit Unrecht, denn daß sie doch wirklich nicht unempfindlich
gegen all das sind, beweisen sie ja eben dadurch, daß sie all das, wenn es an
sie kommt, doch gierig annehmen und freudig dadurch wachsen. Es hängt nur diese
Geduld überhaupt mit ihrem Gebanntsein an die Scholle und ihrem sozusagen weiblichen
Charakter den Tieren gegenüber zusammen. Wartet doch auch eine Königin, daß
man ihr bringe, was sie braucht; sie ist freilich sicher, daß sie nicht zu warten
braucht, viele Hände sind von selbst für sie geschäftig. So wartet nun die ganze
Pflanze, daß des Tieres Leib sich auflöse, ihren Leib zu bauen; die Blume wartet,
daß das Insekt zu ihr komme, ihr bei der Befruchtung zu helfen; der Same wartet,
daß der Säemann ihn ergreift und ins Land säet-das Insekt und der Mensch tun
es ja sicher, freilich zunächst ihretwegen, aber die Natur hat die Insekten
und Menschen eben so eingerichtet, daß das ihretwegen zugleich zu einem ihretwegen
wird. - Gustav Theodor
Fechner, Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen. In:
G. T. F., Das unendliche Leben. München 1984 (zuerst 1848)
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