endler  Da hocken wir nun, grübelte er und ließ einen finsteren Blick über seine Pendlerkollegen schweifen. Da hocken wir, die ganze kaputte Bande, ein vollbesetzter Zug. Wirbelsäulen auf Achse. Viele aufgereihte Wirbelknochen, mal krumm, mal verdreht, je nachdem, wie sich der individuelle Besitzer am wohlsten fühlt. Seine Augen blieben ohne jede Begeisterung auf einem Mann haften, den er von ganzem Herzen verabscheute: Simonds, einer, der mit auserlesenen Grundstücken handelte. Nehmen wir mal diesen Simonds, setzte er seine Reflektionen fort. Diese Ausgeburt der Hölle: ein Haufen Wirbelknochen, weiter nichts. Ich selbst bin auch kaum mehr als eine Säule Wirbelknochen. Und die alte Dame da drüben: ein ganzes Wirbelknochenmuseum. Alte, abgenutzte Wirbelknochen. Zweifellos leicht zerbrechliche... Museumsstücke.

Er seufzte. Seufzte tief beim Gedanken an Alter und Brüchigkeit der Wirbelknochen jener alten Dame und arrangierte seine eigenen neu, indem er sie zwischen Sitz und Rückenlehne kräftig dehnte. Seine Knie krochen vor ihm weiter nach oben, sein Haupt sank tiefer. Nach und nach klappmesserte er in die ihm liebste Pendlerposition.

Warum, das wußte er nicht, doch schienen Wirbelsäulen für Lamb am heutigen Abend das Wichtigste von der Welt. Fast beherrschten sie ihn schon. Je mehr er über Wirbelsäulen nachsann, desto tiefer sank seine Stimmung. Es gab viel zu viele Pendler auf der Welt, und jeder einzelne versuchte, sich in die bequemste, die erholsamste Stellung zu winden. Alle darauf bedacht, nach den Anstrengungen des Tages Entspannung für den Rücken zu finden.

Zögernd blinzelte Lamb in seine Zeitung. Was Wirbelsäulen betraf, war er fest entschlossen, seine Hände in Unschuld zu waschen, und die Einzelheiten einer Finanztransaktion zu studieren.

Zeitungen, wohin man blickte. Abendzeitungen. Verlockend aufgemachte Sensationsblätter, deren Titelseiten ein Paar höchstansehnliche Beine zeigten, einen makellosen Leichnam, ein grausames Zugunglück, einen dumpf vor sich hinstierenden Faustkämpfer. Was konnte ein vernünftiger Bürger sich mehr wünschen?

Lamb studierte die in ihre Zeitungen vertieften Mitreisenden mit gleichgültiger Abneigung. Die Blätter wurden in allen möglichen Winkeln gehalten. Manche nachlässig, unordentlich; andere mit einer Verbissenheit, als lebten ihre Besitzer in fortwährender Angst, jemand könne sie ihres Trostes berauben. Es gab Leser, die überflogen ihre Blätter von weitem. Es gab andere, die zogen sie verschwörerisch dicht vors Gesicht, die Nase an der Drucker-Zeitungen und Wirbelsäulen, philosophierte Lamb und beäugte die Gazetten mit verächtlichem Blick. Das ist der ganze Lebensinhalt. Das ist alles, wozu wir nütze sind.

Drei Reihen vor ihm saß ein würdiger, weißhaariger Gentleman. Der zermartete sich das Hirn über der Nachricht, daß rote Ameisen die Existenz pfefferminzartiger Essenz zutiefst beklagten. Sechzig Jahre lang und mehr war es ihm gelungen, sich ohne den Nutzen dieser Information durchs Leben zu plagen. Und auf einmal war's ihm dringend wichtig. Das mußte er seiner Frau erzählen! Als erstes. Rote Ameisen? Nicht mehr für sie! Und dann versuchte er sich zu erinnern, ob sie jemals von roten Ameisen belästigt worden waren.

Noch ein Stück den Gang hinab saß ein Mann, dessen Gesicht immer länger, immer trauriger wurde. Er beschäftigte sich mit einem Comic strip. Es war schon fast ergreifend, wie er sich konzentrierte. Dann hatte er wohl das eindrucksvolle Finale erreicht und saß wie überwältigt da. Hoffnungslos stierte er vor sich hin. Man hätte annehmen mögen, äußerst deprimierende Nachrichten hätten ihn getroffen.

Auf einem anderen Platz kauerte einer wie ein Hund über seinem Knochen, völlig in sich gekehrt, und schwelgte ersatzweise in den sexuellen Entgleisungen einer Flötenlehrerin und eines sportlichen Gottesmannes. Befriedigend obszöner Stoff. Schockierend. Also dieser Pendler würde die unerquickliche Affäre bestimmt nicht mit seiner Frau besprechen. So was gehörte besser nicht auf den Familientisch. - (lam)

Pendler (2)  Damals, im August 1956, war Herumstromern der beliebteste Zeitvertreib der Ganzen Kaputten Bande, drinnen wie draußen. Und oft nahm es die Form des Jo-Jo-Spielens an. Obwohl sie wahrscheinlich nicht von Profanes Wanderungen entlang der Ostküste angeregt war, unternahm die Bande Ähnliches innerhalb der Stadt. Regel: man mußte wirklich betrunken sein. Manche von den Theaterleuten aus dem »Spoon« hatten phantastische Jo-Jo-Rekorde aufgestellt, die später als ungültig erklärt wurden, weil man entdeckte, daß sie die ganze Zeit über nüchtern gewesen waren. »Achterdeckssäufer« nannte sie Pig verächtlich. Regel: auf jeder Fahrt mußte man wenigstens einmal aufwachen. Sonst wäre der Film nur für eine bestimmte Zeit gerissen, die man auf einer Bank in einem U-Bahnhof verbracht haben könnte. Regel: es mußte eine U-Bahn-linie sein, die in die Stadt hinein und aus ihr heraus führte, denn das war der einem Jojo gemäße Weg. In der ersten Zeit des Jo-Jo-Spielens hatten einige falsche »Champions« schamhaft zugegeben, daß sie ihre Punkte dadurch gemacht hatten, daß sie mit dem Kurzstreckenzug unter der 4ind Street hin und her gependelt waren, was man in Jo-Jo-Kreisen als so etwas wie Skandal betrachtete.

Slab war der König; nach einer denkwürdigen Party bei Raoul, ihm und Melvin vor einem Jahr brach er mit Esther in der Nacht auf, verbrachte ein ganzes Wochenende im West Side-Express und schaffte neunundsechzig Fahrten. Danach stolperte er in der Nähe der Fulton Street wieder hinaus, halbverhungert, und aß ein Dutzend Käsekuchen; ihm wurde schlecht, und man nahm ihn wegen Landstreicherei und weil er sich auf der Straße übergeben hatte fest.

Stencil hielt das alles für Unsinn.

»Schau dir das einmal während der Rush-hour an«, sagte Slab. »Neun Millionen Jo-Jos gibt es dann hier in der Stadt.«

Stencil folgte diesem Rat eines Abends nach fünf, und als er bemerkte, daß eine Strebe seines Regenschirms gebrochen war, schwor er sich, es nie mehr zu tun. Senkrecht stehende Körper, Augen ohne Leben. Außer dem Rattern der Bahn und dem Echo im Tunnel kein Geräusch. Gewalt (die auszubrechen suchte): manche wurden zwei Haltestellen zu früh hinausgeschoben, es gelang ihnen nicht mehr, gegen den Strom wieder auf ihren Platz zurückzukehren. Alles wortlos. War das die zeitgemäße Form des Totentanzes?    - (v)

 

Fahren

 

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