echsträhne  Ein kleiner Junge von kaum zwei Jahren hatte sich die Hosen vollgemacht. Darüber darf man heute nicht böse sein. Bei den vielen Steckrüben und dem schimmeligen Brot, das wir essen müssen, kann es jedem passieren. Zum Glück war der Vater des Kindes auch da und mühte sich, es zu säubern. Er hatte ihm die Höschen heruntergelassen und mit Papier, das er aus seiner Aktentasche nahm, wischte er die Beinchen ab. Der Vater war noch sehr jung. »Wahrscheinlich ist es ein Arbeitsloser«, sagte ich zu dem, der neben mir saß, »oder seine Arbeitsstelle ist wegen Kohlenmangels geschlossen, seine Frau aber hat zu den Beiden gesagt: Geht ihr nur zusammen spielen. Sie ist froh, daß sie die beiden los ist und das Zimmer aufräumen kann.« Wir blickten dem Schauspiel interessiert zu. Schließlich nahm der Vater die Höschen und ging zum Teich, um sie dort auszuspülen. Das Kind rannte hinterher. Das Hemd wehte ihm um die nackten Hinterbäckchen. Das Herz lachte einem vor Freude, wenn man es sah. »Sehn Sie doch, wie ein Engel«, rief ich.

Da kam ein Windstoß und blies den Hut des Vaters in den Teich. Er sprang gleich hinterher, denn wie soll man sich heute einen neuen Hut beschaffen? Das Wasser reichte ihm zwar nur bis zu den Waden, und er erwischte den Hut auch gleich, aber nun waren auch seine Hosen naß.

Welch ein Pech, dachte ich. Wenn sie nach Hause kommen, wird die Mutter sagen: Euch braucht man nur loszuschicken! Am besten, sie springen so lange in der Sonne umher, bis sie beide wieder trocken sind, damit die Mutter nichts merkt und sich ärgert. Doch dabei kann sich das Kind erkälten. - Hans Erich Nossack, Interwiew mit dem Tode. In: Ders., Die Erzählungen. Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1948)

Pechsträhne  (2)  Ich erhalte morgens die Nachricht, daß ich durch Schuld meines Notars oder jedenfalls durch seine Nachlässigkeit mich gezwungen sehe, eine Zahlung von zehntausend Livres zu machen, auf die ich nicht rechnete, und von denen ich keinen Sou besitze; und zwar im Laufe von acht Tagen. Ich lasse die Pferde anspannen und fahre nach Paris. Ich finde die Sache unmöglich. Zehntausend Francs, jetzt! Ich komme nach meinem Hause; während man die Pferde wechselt, fällt es mir ein, einen Schrank zu öffnen, in dem ich all meine Vorräte während der Ausbesserungsarbeiten im Hause verschlossen hatte. Die Mäuse hatten sich ebenfalls dahinein geflüchtet und hatten sich so gut unter den genannten Vorräten eingerichtet, daß von den zwanzig Konfiturentöpfen und vier Zuckerhüten keine Spur, aber rein nichts geblieben war. Ich fluche, das ;tröstet; ich lasse Mäusefallen stellen; damit hätte ich anfangen sollen, aber es sind noch Wäsche und Bücher da, die muß man doch schützen. Ich steige wieder in den !Wagen und stürze fort, mir immer wieder zurufend: Geld! Geld! Verliert da nicht ein Pferd ein Eisen und müssen wir nicht eine Stunde an eines Hufschmieds Tür halten! Ich kann immer mit den Zähnen knirschen, den Vorübergehenden die Zunge herausstrecken, darum komme ich ,nicht weiter vorwärts. Schön, ich fahre also überall herum und bekomme kein Geld, habe im Gegenteil welches verloren, denn (ich glaube, ich schrieb Ihnen das schon), als ich in mein Haus trete, bemerke ich, daß ich meine Börse mit fünf Louis darin verloren habe, desgleichen einen goldenen Ring. Ich habe sie überall gesucht, wo ich gewesen war; sie ist verloren, unrettbar.

Ich kehre nach der Eriche zurück, von Kälte, Anstrengung und Ungeduld erschöpft, und als ich dort ankomme, da zerbreche ich meine Uhr. Oh, meiner Seel! Ich bin ohne Abendessen zu Bett gegangen, denn ich hatte Furcht, beim Essen zu ersticken. - Madame d'Epinay, nach (gale)

Pechsträhne  (3)  Sie rutschte beim Schlittschuhfahren auf dem Eise aus und brach sich eine Rippe. Von diesem Augenblick an wurde sie so sehr von Krankheiten verzehrt, daß kein Werber sie je noch belästigte.

Zunächst bildete sich inwendig ein schmerzhaftes Geschwür, welches sich erst nach anderthalb Jahren öffnete. Dabei ergoß sich eine unerklärliche Menge Eiter aus ihrem Mund iind schwächte sie derart, daß sie drei Jahre lang nur kriechen konnte, bis sie schließlich vollends ans Bett gefesselt war. Ein Brand im Leibe, den die Arzte Antoniusfeuer nannten, verursachte ihr unstillbaren Durst. Wenn sie aber trank, dann mußte sie es sofort wieder erbrechen.

Zu der grenzenlosen Schwäche kam Schlaflosigkeit. Die inneren Organe wurden von der Fäulnis um die einst gebrochene Rippe angegriffen. Große Würmer krochen aus ihren Wunden hervor, zum Schauder aller, die sie pflegten oder besuchten. In ihren Knochen brannte es wie Feuer. Dazu kamen unerträgliches Kopfweh und unaufhörliche Zahnschmerzen, die sie monatelang bis zum Wahnsinn quälten.

Die Fäulnis im Unterleib dehnte sich so aus, daß man mit einem Verband das Herausfallen der Eingeweide verhindern mußte. Über Stirn und Kinn bildete sich ein tiefer Spalt, weshalb sie nur mühsam zu reden vermochte. Aus den Ohren und der Nase, sogar aus den Augen flössen stets große Mengen Blut. Im ständigen Wechselfieber glühte sie bald vor Hitze, bald zitterte sie vor Frost. Ihr rechtes Auge wurde blind und das linke so schwach, daß sie fast immer in Finsternis lag. Bewegen konnte sie nur den linken Arm und den Kopf. Am ärgsten aber peinigten sie Gallensteine und ein schweres Darmleiden. Die letzten 19 Jahre ihres Lebens genoß Lidwina nur die hl. Hostie und etwas Wasser.   - Albert Christian Sellner, Immerwährender Heiligenkalender. Frankfurt am Main 1993

Pechsträhne  (4) Im November 1929, nach verschiedenen peinlichen Vorfällen, hatte ich eine Pechsträhne, die schon vor dem Sommer begonnen hatte: regelmäßig fehlgeschlagene Liebesversuche, skandalöse Räusche; beinahe blutige Bisse, die ich mir von einer Frau, in die ich früher einmal verliebt gewesen war, an den Händen hatte beibringen lassen; eine nächtliche Sauferei, nach der ich, weil ich bei einer kleinen amerikanischen Negertänzerin nicht zum Ziel kommen konnte, gegen fünf Uhr morgens bei einem Freund aufkreuzte und ihn, mit der übrigens mehr oder weniger vorgetäuschten Absicht, mich zu kastrieren, um sein Rasiermesser bat - worauf mir der Freund ganz einfach antwortete, er habe nur einen automatischen Rasierapparat.   - (leiris3)
 
 

Unglück Serie

 

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