aranoia  Ehe er sich dessen bewußt wurde, fiel sein Blick wieder auf den Stein und ließ die seltsame Ausstrahlung mit nebelhaften Prozessionen in seinen Geist dringen. Er sah endlose Züge kapuzenverhüllter Gestalten, deren Umrisse nichts Menschliches hatten, und ungeheure Ebenen, wüste Flächen, aus denen sich himmelhohe Monolithe erhoben, er sah Türme und Wälle in nachtdunklen unterseeischen Abgründen und die schwindelerregenden Schlünde des Alls, darin sich schwarze Nebelwände mit dünnen eisigen Purpurdämmerungen vermischten. Und jenseits all dieser Erscheinungen erblickte er eine ungeheure Schlucht grausigster Finsternisse, in der unbestimmbare Kräfte über ein Chaos zu walten schienen, Kräfte, die den Schlüssel zu allen Paradoxa und geheimen Wissenschaften dieser Welt besaßen.

Dann brach mit einem Male eine nagende, intensive panische Angst den Zauber. Blake wandte sich wie ein Erstickender von dem Stein ab, denn er spürte mit jeder Faser die nahe Gegenwart eines fremden formlosen Wesens, das ihn mit grauenhafter Intensität beobachtete. Er fühlte, daß ihn irgendetwas umlauerte — ein Ding, das, obgleich nicht im Stein selbst vorhanden, ihn dennoch durch diesen betrachtete; etwas, das ihm mit einem Erkenntnisvermögen nachjagen würde, das nichts mit physischem Sehen zu tun hatte. - H. P. Lovecraft, Der leuchtende Trapezoeder. In: Cthulhu. Geistergeschichten. Übs. H. C. Artmann. Frankfurt am Main 1972 (st 29, zuerst 1936)

Paranoia (2) Oft, fast jede Nacht während des ganzen Frühlings von 1959, hatte ich um mein Leben fürchten müssen. Einsamkeit ist Satanas Spielplatz. Ich kann die Abgründe meiner Trübsal und Verlassenheit nicht beschreiben. Natürlich gab es meinen berühmten Nachbarn auf der anderen Wegseite, direkt gegenüber, und einmal nahm ich auch einen ausschweifenden jungen Mann zur Untermiete bei mir auf (der gewöhnlich erst lange nach Mitternacht heimkam). Trotzdem möchte ich jenen kalten harten Kern der Einsamkeit hervorheben, der nicht gut ist für eine verbannte Seele. Jeder weiß, wie begabt für Königsmord die Zemblaner sind: zwei Königinnen, drei Könige und vierzehn Thronprätendenten starben einen gewaltsamen Tod, erwürgt, erstochen, vergiftet und ertränkt im Laufe eines einzigen Jahrhunderts (1700-1800). Besonders einsam wurde das Goldsworthsche Schloß nach jenem Wendepunkt im Abenddämmer, der so sehr der Umnachtung des Geistes gleichkommt. Verstohlenes Rascheln, die Schritte des Laubs vom vergangenen Jahr, ein träger Luftzug, ein Hund, der die Mülltonnen abklapperte — alles klang für mich wie von einem blutdürstigen Strolch verursacht. Des öfteren ging ich von Fenster zu Fenster, meine seidene Nachtmütze schweißdurchnäßt, meine nackte Brust ein tauender Teich, und manchmal wagte ich es auch, bewaffnet mit des Richters Schrotflinte, dem Terror der Terrasse Trotz zu bieten. Ich glaube, es war damals, in jenen sich maskierenden Frühlingsnächten, als die Geräusche neuen Lebens in den Bäumen grausam das Knacken alten Tods in meinem Hirn nachahmten, ich vermute, damals, in jenen schrecklichen Nächten, habe ich mich daran gewöhnt, die Fenster vom Hause meines Nachbarn, auf einen Schimmer der Tröstung hoffend, zu konsultieren. Was hätte ich nicht darum gegeben, hätte der Dichter noch einen weiteren Herzanfall erlitten und ich wäre in ihr Haus gerufen worden, alle Fenster strahlend erleuchtet, mitten in der Nacht, in einem einzigen warmen Ausbruch von Sympathie, Kaffee, Telefonaten, zemblanischen Kräuterrezepturen (sie wirken Wunder!) und mit einem wiederauferstandenen Shade, der mir weinend in den Armen liegt («ist ja gut, John, ist ja gut»). Aber in jenen Märznächten war ihr Haus so schwarz wie ein Sarg. Und als physische Erschöpfung und Grabeskälte mich schließlich nach oben und in mein einsames Doppelbett trieben, lag ich wach und atemlos — als wäre es gerade jetzt, daß ich mit vollem Bewußtsein jene gefahrvollen Nächte in meinem Land durchlebte, wo jeden Augenblick ein Trupp zappeliger Revolutionäre eindringen und mich an eine mondbeschienene Wand schleppen konnte. Das Geräusch eines schnellen Wagens oder eines stöhnenden Lasters kam mir vor wie eine merkwürdige Mischung aus dem Beistand freundlichen Lebens und des Todes gräßlichem Schatten: machte dieser Schatten halt vor meiner Tür? Würden sie mich auf der Stelle erschießen — oder würden sie den chloroformierten Gelehrten nach Zembia, Rodnaya Zembla, zurückschmuggeln, auf daß er dort sich einer blendenden Karaffe und einer Reihe von Richtern gegenübersähe, die in ihren inquisitorischen Stühlen frohlockten?

Bisweilen glaubte ich, nur mittels Selbstzerstörung könnte ich hoffen, den erbarmungslos herannahenden Mördern ein Schnippchen zu schlagen, die mehr in mir, meinen Trommelfellen, meinem Puls, meinem Schädel sich aufhielten, als auf jener fortlaufenden Hauptstraße, die sich um mich herum in Schleifen nach oben und um mein Herz wand, ehe, kaum daß ich eingedöst war, mein Schlaf auch schon zerrissen wurde durch die Rückkehr dieses betrunkenen, unmöglichen, unvergeßlichen Bob in Candidas oder Dees ehemaliges Bett. Wie im Vorwort kurz erwähnt, habe ich ihn schließlich rausgeschmissen; danach konnten etliche Nächte lang weder Wein noch Musik, noch Gebet meine Ängste besänftigen. Andererseits waren jene milden Frühlingstage durchaus erträglich, meine Vorlesungen fanden allgemeinen Anklang, und ich besuchte mit Fleiß alle gesellschaftlichen Veranstaltungen, die mir zugänglich waren. Doch nach dem fröhlichen Abend kam wieder dieses hinterhältige Herannahen, heimtückische Schlurfen, Anschleichen, dann die Pause, und wiederum Knistern. - (ff)

Paranoia (3) Stalin, der Paranoiker an der Macht, so hat ihn Bechterew, der berühmteste Schüler des Verhaltensbiologen Pawlow gesehen. Drei Tage nach einer privaten Audienz bei dem Kremlherrscher stirbt er unter mysteriösen Umständen, wahrscheinlich vergiftet wie irgendein Nebenbuhler in römischer Kaiserzeit. Stalin hatte ihn um eine Untersuchung und um die Diagnose eventueller Krankheitsanzeichen gebeten. Einmal in Moskau als Teilnehmer eines Kongresses anwesend, konnte Bechterew schwerlich ablehnen, auch nicht, als Freunde ihn warnten. Allen Einflüsterungen der Angst zum Trotz, entschied er sich für die Offenheit des behandelnden Arztes. Bis heute hallt die Frage nach, die Stalin, medizinisch naiv oder einfach nur bauernschlau, ihm gestellt haben soll. Paranoid? Aber was ist denn das, Paranoia? Bechterew hat das Arztgeheimnis nie vor Publikum brechen können, nur engste Freunde hörten von seinem Berufspech, bevor er verschied.  - (gr)

Paranoia (4) Armer Mann! Sein einziger wirklicher Fehler war ein unüberwindliches Mißtrauen gegenüber jedem, der seine großen Gaben bewunderte, er hielt solche Bewunderung für einen Vorwand von Menschen, die sich in sein Vertrauen schleichen und ihn dann seinen wirklichen oder eingebildeten Feinden ausliefern wollten. Ich glaube, er sehnte sich danach, gemocht zu werden, und man hätte ihn auch gemocht, nur verstand er es einfach nicht, Zuneigung entgegenzunehmen.  - Edith Sitwell, Mein exzentrisches Leben. Frankfurt am Main 1994 (Fischer-Tb. 12126, zuerst 1965)

Paranoia (5)  In klinischer Terminologie ist die Turingmaschine (wie jeder logische Mechanismus) eine "paranoide Maschine": Ein Paranoiker ordnet alle seine Wahrnehmungen systematisch (darum wird Paranoia auch als "systematischer Wahn" bezeichnet) einer einzigen Ursache zu, nämlich der Absicht, ihm zu schaden. Er strukturiert seine Interpretationen hierarchisch unter einer einzigen logischen Wurzel. In diesem, bei Menschen als pathologisch angesehenen Denkmodus befinden sich Turingmaschinen (also unsere ganze heutige Computergeneration mit Ausnahme von Neuronalen Netzen, die hier unberücksichtigt bleiben) prinzipiell und dauerhaft- wenn auch mit wechselnden Axiomen (Programmen). - Peter Krieg 10.01.2005, telepolis

Paranoia (6)

Paranoia (7)    Für den ungeheuren Haß und den Abscheu, den sich Tiberius durch seine Grausamkeiten zugezogen hatte, wie für seine ständige Gewissensangst, in der er lebte, und die vielfachen Schmähungen, denen er ausgesetzt war, gibt es zahlreiche Anzeichen. Zum Beispiel verbot er, die Haruspices geheim und ohne Zeugen zu befragen. Sogar Orakel in der Nähe Roms versuchte er zu beseitigen. Doch stand er davon ab aus Schreck über die göttliche Majestät der Pränestinischen Lose, die er versiegelt nach Rom hatte bringen lassen, die aber nicht eher in ihrem Kasten wiedergefunden wurden, bis er in den Tempel zurückgeschafft worden war. - (sue)

Paranoia (8)

Paranoia (9)  Das erste Staatswesen, das gezielt Eunuchen in die Ränge seiner Beamtenschaft aufnahm, war das assyrische Reich, das den Vorderen Orient im 1. Jahrtausend v. Chr. beherrschte. Die Praxis wurde in dem von Kyros dem Großen (Reg. 559-529 v. Chr.) gegründeten Perserreich weitergeführt. Der griechische Schriftsteller Xenophon berichtet, daß Kyros »vom Torwärter aufwärts alle Ämter in seinem persönlichen Umfeld mit Eunuchen besetzte«. - (erf)

Paranoia (10)  Es ist schwer, es dem Unbestechlichen recht zu machen. Trägt man revolutionäre Gewohnheiten zur Schau, so ist man ein verkappter Aristokrat; bleibt man, wie man ist, so ist man gleichgültig und somit ein heimlicher Feind der großen Sache. Fordert man Blut, so hat man sich mit den Freunden Lafayettes heimlich verabredet, um den Konvent und seine Organe durch Ausschreitungen unpopulär zu machen; rät man zur Milde, so hat man selbst irgendeinen Grund, die Strenge des Gerichtes zu fürchten; schlägt man die Belohnung der Soldaten vor, so will man die Aufmerksamkeit von den inneren Schäden ablenken; wendet man sich gegen die anspruchsvolle Petition eines Truppenteils, so ist man von den Engländern bezahlt, um die Armee unzufrieden zu machen. Sagt man gestern, ist man ein Royalist, sagt man morgen, ein Verführer. Lobt man Robespierre, ist man ein Schmeichler, tadelt man ihn, so ist man ein Verschwörer gegen das Vaterland. Auf der ganzen Welt gibt es kein Mittel, ihn zufriedenzustellen und sein immer waches Mißtrauen zu entwaffnen, außer dem einen und letzten, sich hinrichten zu lassen. - Friedrich Sieburg, Robespierre. München 1965 (zuerst 1958)

Paranoia (11) Wenn jemand (zum Beispiel) behauptet, man schmiede ein Komplott gegen ihn, läßt sich das nicht bestreiten, außer man setzt dagegen, alle Betroffenen leugneten, sich gegen ihn verschworen zu haben; aber genau so würden Verschwörer sich ja verhalten. Die Erklärung des Verrückten paßt ebensogut zu den Fakten, wie das, was man dagegen vorbringt. Wenn jemand behauptet, er sei der rechtmäßige König von England, reicht es nicht aus, ihm zu entgegnen, die Behörden erklärten ihn für verrückt; denn wenn er tatsächlich der König von England wäre, wäre dies vielleicht das Klügste, was die Regierenden tun könnten. - G. K. Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung  für die Ungläubigen. Frankfurt am Main  2000 (zuerst 1908)

Paranoia (12)

Paranoia (13, beidseitige)

Paranoia (14)

Paranoia (15)

Angst Geisteskrankheit Verfolgung Wahn
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Unterbegriffe
Paranoia, gesunde
Verwandte Begriffe
GeheimdienstWahnsystem
Synonyme