Paradies-Leck   Feller stand plötzlich unter der Tür. Er hielt die Weinflasche in der rechten Hand und starrte die beiden Polizeibeamten an.

»Was wollen wir denn hier?« sagte Rüfenacht.

»Für jeden eine Flasche eines Jahrgangs!« Feller knallte die Flasche auf den Tisch. »Einfach rein und wieder raus! Fragen Sie doch den Höchstettler da! Der ist kein Anfänger wie ich! Der ist ein Profi!«

»Ein Geständnis!« Rüfenacht strahlte seinen Kollegen an. »Enfin! Sie gehören dir. Alle!«

Inzwischen allerdings hatte der Schriftsteller auch Fellers Flasche offen - den Latour von 1921 - und drei Gläser vollgeschenkt. Für die, die noch nichts hatten. Feller trank seins in einem Zug leer, ohne daß er irgendwas zu schmecken schien. Der einheimische Polizist schluckte mit Würde. Und weil er Rüfenacht energisch zunickte, setzte auch der das Glas an die Lippen. Nahm einen Mundvoll. Befehl war Befehl, und hier, in einem fremden Kanton, hatte sein Kollege die uneingeschränkte Kommandogewalt. Auch wenn er nur ein Wachtmeister war.

Dann allerdings war es Rüfenacht, als habe das Paradies ein Leck und rönne just in ihn hinein. Er fühlte eine wilde Hitze in seiner Brust, und die Eisenringe, die sein Herz seit immer fesselten, zersprangen. Alles öffnete sich in ihm. Stimmen riefen. Sonnen schienen. Er atmete tief ein und aus und sein Kopf glühte.

»Weine aus dem Pauillac sind die besten«, sagte der Schriftsteller. »Nichts zu machen.« Er lächelte Rüfenacht an. Der setzte sich, legte das Käppi vor sich auf den Tisch und brach in Tränen aus.

»Na, na«, sagte der Schriftsteller.

»Nichts ist mehr wie früher«, gurgelte Rüfenacht, dem ganze Tränenbäche in den Mund rannen. »Typen, die wir in der Terroristen-Kartei fichiert haben, leiten plötzlich parlamentarische Untersuchungskommissionen. Grad war einer noch ein Kommunist, und nun ist er ein Ehrenmann. Der Pfarrer meiner Gemeinde ist schwul. Der Verwaltungsratspräsident meiner Bank sitzt im Gefängnis. Sie werden sehen, der nächste Schwingerkönig ist ein Neger.« Er schneuzte sich in den Jackenärmel. »Ständig verhafte ich die Falschen.«

»Das geht uns allen so«, sagte der Schriftsteller.

Rüfenacht weinte weiter. Sein Kollege hatte den Kopf in den Nacken gelegt, weil er einen Schluck Wein im Gaumen hin und her schwenkte. Keller sah sinnend in sein Glas. Feller roch an seiner Flasche und schien zu merken, daß sie keinen Essig enthielt. Höchstettler streichelte eine Hand seines Nachfolgers. Und der Schriftsteller nahm die Karaffe, in der ein etwas trüber Rest war, schüttete einen Schluck Cognac dazu und trank das Gemisch. Er stöhnte, leise, nur für sich allein. - Friedrich Dürrenmatt (und Urs Widmer), Der Pensionierte. Zürich 1997

Paradies Undichtigkeit

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