rgan,
religiöses
Und wenn Tolstoj in Ihnen
aufsteht und fragt: »Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut,
die Frage: was sollen wir denn tun? und: wie sollen wir unser Leben
einrichten?«, oder in der heute Abend hier gebrauchten Sprache:
»welchem der kämpfenden Götter sollen wir dienen? oder vielleicht einem
ganz anderen, und wer ist das?«, – dann ist zu sagen: nur ein Prophet
oder ein Heiland. Wenn der nicht da ist oder wenn seiner Verkündigung
nicht mehr geglaubt wird, dann werden Sie ihn ganz gewiss nicht dadurch
auf die Erde zwingen, dass Tausende von Professoren als staatlich
besoldete oder privilegierte kleine Propheten in ihren Hörsälen ihm
seine Rolle abzunehmen versuchen. Sie werden damit nur das eine fertig
bringen, dass das Wissen um den entscheidenden Sachverhalt: der
Prophet, nach dem sich so viele unserer jüngsten Generation sehnen, ist
eben nicht da, ihnen niemals in der ganzen Wucht seiner
Bedeutung lebendig wird. Es kann, glaube ich, gerade dem inneren
Interesse eines wirklich religiös »musikalischen« Menschen nun und
nimmermehr gedient sein, wenn ihm und anderen diese Grundtatsache, dass
er in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal
hat, durch ein Surrogat, wie es alle diese Kathederprophetien sind,
verhüllt wird. Die Ehrlichkeit seines religiösen Organs müsste, scheint
mir, dagegen sich auflehnen. - Max Weber,
Wissenschaft
als Beruf
(1922)