Orakel, unwürdiges  In Bergamo lebte einst ein Zwerg namens Pizzighini.

Jedes Jahr in den ersten Frühlingstagen erlebte Pizzighini, wie sich seine Poren unter dem klimakterischen Einfluß des Lenzes weiteten und sein ganzer Körper Blut schwitzte. Nach dem Volksglauben kündigte dieser blutige Schweiß, sofern er kräftig genug auftrat, eine gute Jahreszeit an und garantierte im voraus eine reiche Ernte; war er schwach und kümmerlich, so sagte er jedoch große Dürre voraus, auf die Not und Elend folgen würden. Die Tatsachen hatten diesem Glauben stets recht gegeben.

In dem Augenblick, da Pizzighini von seiner seltsamen Krankheit befallen wurde, die, stets von Fieber begleitet, ihn zwang, das Bett zu hüten, umgab ihn immer eine Gruppe von Bauern. Je nach der Menge des ausgeschwitzten Blutes breitete sich Fröhlichkeit oder Bestürzung in der ganzen Gegend aus. War die Prognose zufriedenstellend, so dankten die Bauern, im sicheren Bewußtsein, daß ihnen eine prächtige Ernte lange Tage der Ruhe und der Heiterkeit bescheren würde, dem Zwerg mit mancherlei Gaben. Ihr Aberglaube machte aus ihm ein gottähnliches Wesen. Eine rein vorübergehende Wirkung für die Ursache haltend, glaubten sie, Pizzighini bestimme aus eigener Machtvollkommenheit gute oder schlechte Ernten, und im Falle einer günstigen Prophezeiung trieben sie ihn durch den selbstsüchtigen Reichtum ihrer Gaben an, sie im nächsten Jahr zufriedenzustellen. Umgekehrt aber brachte zu geringer Schweiß nicht das kleinste Geschenk ein.

Faul und zügellos, wie er war, wußte Pizzighini die Gaben zu schätzen, die ihm so wenig Mühe machten. Jedesmal, wenn das Blut wunschgemäß seine Wäsche und sein Bett befleckte, erlaubten ihm die Geschenke aus verschiedenen Orten der Umgebung, ein Jahr lang in üppigem und ungetrübtem Müßiggang zu leben. Aber da er kraftlos und unvorsichtig war, sparte er nicht und geriet nach jedem ungenügenden Schweißausbruch in tiefe Not. Als nun einmal der gewohnte Frühlingstag wiederkehrte und er sich ins Bett legte, um seinen periodischen Fieberschweiß zu erdulden, versteckte er ein Messer unter seinen Betttüchern, um im Notfall dem Phänomen nachzuhelfen.

Gerade an diesem Tage schwitzte der Zwerg nur wenig; kaum daß sich auf seinem Gesicht ein paar rote Tröpfchen zeigten. Entsetzt über die Aussicht auf lange Monate der Entbehrung, die ihn erwarteten, griff er nach dem Messer, und indem er so tat, als habe er im Fieber nervöse Zuckungen, gelang es ihm, sich an Rumpf und Gliedern eine Reihe tiefer Schnitte beizubringen, ohne den Argwohn der um ihn gescharten Beobachter zu erregen.

Zur großen Freude aller durchnäßte jetzt das Blut die Tücher. Aber der verwundete Zwerg war nicht mehr imstande, die Blutungen zu stillen; er war ausgeblutet und halbtot, als ihn die Zuschauer entzückt verließen, um dem Volke zu verkünden, daß der blutige Schweiß noch nie auch nur annähernd so reichlich geflossen sei.

So brachte man besonders schöne und zahlreiche Gaben zu Pizzighini, der, schwach und kaum einer Bewegung fähig, jedermann durch seine furchtbare Blässe erschreckte. In diesem Jahr trat eine schreckliche Dürre ein, und überall herrschte grausame Hungersnot.   - (sol)

 

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