rakel  In der Absicht, den Gott über den Feldzug gegen die Perser zu befragen, begab sich Alexander nach Delphi; doch zufälligerweise kam er zur Zeit der »Schwarzen Tage«, an denen es nicht gestattet ist, ein Orakel zu geben. Zuerst schickte er Leute, um die Seherin herbeirufen zu lassen. Als diese sich weigerte und sich auf das Gesetz berief, ging er selbst hin und schleppte sie gewaltsam zum Tempel. Sie aber sprach, von seinem unbeugsamen Willen bezwungen: »Unwiderstehlich bist du, Knabe!« Nachdem Alexander das vernommen hatte, sagte er, er brauche kein weiteres Orakel, sondern habe bereits den Spruch bekommen, den er von ihr verlangt habe.  - Plutarch

Orakel (2) Dr. Johnsons Tageslauf schien immer der nämliche zu sein. Gewöhnlich suchte ich ihn ungefähr um zwölf Uhr auf und fand ihn oft noch im Bett, oder dann saß er beim Tee, von dem er nie genug bekam, und ließ sich über irgendeinen Gegenstand aus. Dabei hatte er meist eine ganze Schar von Besuchern um sich — Hawkesworth, Goldsmith, Murphy, Langton, Steevens, Beauclerk usw., zuweilen auch gelehrte Frauenzimmer; besonders ist mir noch eine Französin in Erinnerung, eine Dame von Welt, die ihm einst ihre Aufwartung machte. Es kam mir vor, man betrachte ihn als eine Art öffentlichen Orakels, das aufzusuchen und zu Rate zu ziehen jedermann ein Recht zu haben glaubte; zweifellos kam dabei ein jeder auf seine Rechnung. Unerfindlich war mir, wo er die Zeit zu seinen literarischen Arbeiten hernahm. Den ganzen Vormittag verbrachte er im Gespräch und begab sich dann zum Essen in ein Gasthaus, wo er sich meist lange aufhielt; im Hause eines Freundes trank er den Tee, bei dem er sich ebenfalls lange verweilte; dagegen nahm er selten ein Abendessen ein. Er muß wohl hauptsächlich des Nachts gelesen und geschrieben haben; denn ich kann mich kaum entsinnen, daß er sich je geweigert hätte, mit mir in ein Wirtshaus zu gehen.  - (johns)

Orakel (3)  Manche Orakel machten es den Ratsuchenden schwer. So gab es zum Beispiel in Lebadeia ein Orakel des Trophonios, Sohn des Argonauten Erginos, wo sich der Bittsteller einige Tage zuvor reinigen und in einem Haus, das dem Guten Glück und einem gewissen Guten Geist gewidmet war, wohnen mußte. Im Flusse Herkyna muß er baden und dem Trophonios, seiner Amme Demeter, Europa und anderen Gottheiten Opfer darbringen. Dann aß er geweihtes Fleisch, besonders das eines Widders. Dieser Widder wurde dem Schatten des Agamedes, des Bruders des Trophonios, der ihm beim Bau des Tempels des Apollon zu Delphi geholfen hatte, geopfert.

So vorbereitet wurde der Bittsteller von zwei dreizehnjährigen Knaben an den Fluß geführt und dort gebadet und gesalbt. Dann trank er aus einer Quelle, die Wasser der Lethe hieß. Lethe sollte ihn das Vergangene vergessen lassen. Manchmal trank er auch aus einer anderen in der Nähe liegenden Quelle ein Wasser von gegenteiliger Wirkung, das ihm alles Schöne der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückrief. Gekleidet in ländliche Schuhe und in ein Leinengewand, wie ein Opfer mit einem Stirnreif um sein Haupt, näherte er sich dem Orakelschrein. Der Schrein sah wie ein großer Backofen aus und war sieben Meter tief. Der Bittsteller stieg eine Leiter hinab, fand auf dem Grund eine enge Öffnung, durch die er seine Beine steckte, während er in den Händen Kuchen aus Gerste und Honig hielt Ein plötzlicher Ruck an seinen Fußgelenken ließ ihn wie von den Wirbeln eines schnellen Flusses herabgezogen durch die Luft sausen. In der Dunkelheit erhielt er einen Schlag auf den Schädel, so daß er halb ohnmächtig war. Ein unsichtbarer Sprecher enthüllte ihm sodann die Zukunft und manch anderes Geheimnis. Dann zog man den Bewußtlosen an den Füßen wieder ans Tageslicht. Die Kuchen blieben zurück. Auf dem sogenannten Stuhl des Erinnerns verlangte man von ihm, daß er das Gehörte wiederhole. Endlich, noch immer benommen, kehrte er zunick in das Haus des Guten Geistes, wo er allmählich das Bewußtsein und die Fähigkeit zu lachen wiederfand. - (myth)

Orakel (4) Wirklich zum Rätsel wurde Ono  erst, als man es zum erstenmal sah. Es war an einem Sonntag. Ono stand in seinem Haus am Stadtrand. Drei Frauen, in seinen Anblick versunken, vor ihm. Die Dämmerung brach herein, ein leichter Wind kam auf. Das Haar bewegte sich leicht nachgebend hin und her, schien sogar zu flüstern, als plötzlich eine der drei Frauen eine Hand deutend auf Ono ausstreckte, mit der anderen sich den offenen Mund verschloß. Die drei Frauen fielen auf die Knie. Onos Haar begann Bilder zu formen und Geschichten zu erzählen. Es berichtete von einer Zeit längst vor Onos Geburt und berichtete so, als ob es sich gerade im Moment ereignen würde: Schlachten... historische Liebesduelle ... Entdeckungen ...

Das Haar hatte Ono überholt, war alt und älter geworden, war in die Zeit zurückgewachsen.

Seit langem lebt Ono jetzt schon außerhalb der Stadt und rührt sich nicht mehr von der Stelle. Tag und Nacht halten Gelehrte bei ihm Wacht. Bei Dämmerung und leichtem Wind entsteht großes Gedränge, denn man hofft, von Onos Haar zu erfahren, wie die Welt entstanden ist. - Uwe Brandner, in: Tintenfisch 1. Jahrbuch für Literatur. Berlin 1968

Orakel (5)  Das Geräusch von hohlen, rollenden Stämmen oder von dumpfen Trommeln kam aus Thots Kapelle. Dann verstärkte es sich zu entsetzlichem Dröhnen, erinnerte an die Schreie der Kamele, wenn sie Junge zur Welt bringen, war jedoch ärger. In ihm lag eine ganze Hölle.

Graf Mandranico sah unbewegt zu. Er trat weder zurück noch wandte er sich zur Flucht. Thots zerstörter Schnabel hatte sich zu einem Grinsen geöffnet, die beiden Armstümpfe bewegten sich, und am schrecklichsten war, daß der Rest der Statue unbeweglich verharrte. Aus dem Schnabel drang die Stimme.

Der Gott sprach. Seine heiseren Verwünschungen - denn so klang es — hallten im Tempel wider.

Leclerc war nicht mehr imstande, sich zu bewegen. Nie gekanntes Entsetzen erfüllte ihn, und sein Herz hämmerte. Und der Graf? Wieso konnte es der Graf ertragen ? Vielleicht, weil auch er ein König war, den Worte nicht verletzen konnten, so wie einst die Phraonen? Doch die Stimme begann zu stammeln, wurde leiser, verklang.  - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

Orakel (6) Für ein  Anagramm, in der Zeit ihrer Beschäftigung mit der Zahl 9, nimmt sie als Ausgangssatz die Phrase:

Unsere Schicksalszahl ist die neunundneunzig.

Das in diesem Satz gefundene Anagramm heißt:

Nun sucht dich sein sinnendes Auge als Ziel. Kurz
sind unsere Tage und sinken zu schnell zu Eis. - Ach!

Oder sie stellt die Frage:

Werde ich Dir einmal begegnen?

Das Anagramm dieses Satzes gibt ihr folgende Antwort:

Nach drei Wegen im Regen bilde
im Erwachen Dein Gegen-Bild: Er -
der Magier! - Engel weben Dich in
den Drachenleib. - Ringe im Wege -
lange, beim Regen, werd ich Dein.

Unerschöpfliches Vergnügen für sie: Das Suchen in einem Satz nach einem anderen Satz. Die Konzentration und die große Stille, die diese Arbeit verlangen, geben ihr die Chance, sich gegen ihre Umwelt vollkommen abzuschließen - ja, selbst die Wirklichkeit zu vergessen -, das ist es, was sie will. - Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Frankfurt am Main - Berlin  1977

Orakel (7)  Er gebrauchte nicht nur seltsame Vorsichtsmaßregeln, um sich vor dem  Zorne  des  grausamen  Geistes zu schützen, sondern versuchte auch durch allerlei Zaubereien seine Absichten zu ergründen, um der rächenden Strafe vorbeugen zu können; sicherlich hatte er einen dienstwilligen Geist. Und deswegen hatte er auch, wie alle Hexeriche, eitrigtränende Augen, denn sie befassen sich oft mit ganz unsauberen Dingen, Gewohnheiten, die auch er angenommen hatte: wenn er das Bedürfnis hatte, sein Inneres zu erleichtern, so befragte er immer seinen Abgang, um sich über die Gegenwart und nächste Zukunft zu unterrichten; je nach der Form, die der Abgang zeigte, den er immer am seichten Seeufer ausschied, teilte er seine Suchzeiten ein, der Dieb. Zeigte er die Umrisse eines reißenden Tieres, so holte er an dem Tage kein Gold aus der Erde oder den Wasserschluchten; waren es hingegen Vogelschwingen, die sich zu ihm neigten, so hatte er Mut, seinen Schatz eilig zu mehren. Er war erfinderisch, Deutungen zu finden, die zur Vorsicht mahnten, denn das war sicher: der ›Geist des Goldes‹ war ihm gram, suchte ihn zu ertappen, um ihn einfangen und martern zu können, um ihm sein Leben zu nehmen durch einen Blitzstrahl oder einen Felsen aus ihm zu machen, wie er schon oft getan. Jedenfalls wußte er, daß der zürnende Geist ihn zur Rechenschaft ziehen würde, wenn es ihm nicht rechtzeitig gelingen sollte, sich seiner Beute zu entledigen oder irgendwie rasch unterzubringen, um mit leeren Händen dazustehen vor der fürchterlichen Erscheinung, die ihn finden würde.

Eines Morgens, als er wieder die bewußte Frage stellte, zeigte sich ihm ein nackter Fuß, dessen Spitze sich nach ihm richtete.   - (arauk)

Orakel (8)    Als ein alter König einmal einen Krieg begann, befragte er das Orakel seines Landes, und er bekam den Bescheid: ‹Wenn du den Fluß überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.› Er dachte, das Reich seines Gegners; die Antwort konnte beides meinen, sein Reich und das des Gegners, nachher war es seins. - Alfred Döblin, Amazonas. Romantrilogie. München 1991 (entst. 1935-37)

Orakel (9)  Er hatte sich selbst in eine Erektion hineinphantasiert. Er bedeckte es mit dem Stellenteil der »Times« und wartete, daß es sich legte. Ein paar Tauben beobachteten ihn, neugierig. Es war kurz nach Mittag, die Sonne schien heiß. Ich sollte weitersuchen, dachte er, der Tag ist noch nicht vorbei. Was sollte er tun? Er war, so hatte man ihm gesagt, ungelernt. Jeder andere verstand sich auf diese oder jene Maschine. Profane konnte nicht einmal mit Picke und Schaufel umgehen.

Zufällig sah er nach unten. Seine Erektion hatte auf der Zeitung eine Falte geworfen, die sich während des Abschwellens Zeile um Zeile hinunter schob. Es war die Liste der Arbeitsvermittlungsstellen. Schön, dachte Profane, aus Jux und Dollerei mach ich jetzt die Augen zu, zähle bis drei, mach die Augen wieder auf und geh zu der Agentur, bei der die Falte dann angekommen ist. Das wäre ungefähr so, als würde man mit Wappen oder Zahl losen: tote Münze, totes Papier, reines Lotteriespiel.

Seine Augen öffneten sich über der Space/Time Employment Agency, am unteren Broadway, nicht weit von der Fulton Street. Schlecht getroffen, dachte er. Das bedeutete fünfzehn Cents für die U-Bahn. Aber abgemacht war abgemacht.   - (v)


Magie Wahrsagung

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