Ontethik    »Mein liebes Kind«, begann Orsells mit einer Stimme voll theoretischen Zuckers, »bei jeder Sache und ganz besonders in Ihrem Fall heißt es, zum Anfang zurückkehren, das heißt, zu den Fundamenten, die zugleich metaphysisch und moralisch sind, zugleich zur Ethik und zur Ontologie gehören oder, wie ich lieber sage, Sie kennen ja meine kleinen Steckenpferde, zur Ontethik.«

»Abhandlung, 1.Buch, 1. Kapitel, 1.Scholion, 1. Zeile«, murmelte Hortense mechanisch.

»Alles beruht, wie Sie wissen, auf dem moralischen Sinn des Wortes müßte. Der Satz, >man müßte A tun<, schreibt vor, daß man notwendigerweise wünschen soll, daß A ausgeführt wird, und zwar in allen möglichen Welten, in denen sich das Problem des Seins stellt, das übrigens, wie Sie ebenfalls wissen, da Sie meine Vorlesung von 19..-.. (erstes Semester) besucht haben, das Mögesein ist. Müßte verpflichtet auch im Universellen in der Weise, daß, wenn ich sage >man müßte A tun<, ich implizit die Feststellung treffe, daß jeder, wer auch immer (das heißt, ein anderer oder ich selber, in allen möglichen Welten), unter identischen Umständen (das heißt, unter denselben Umständen, unabhängig von der Stellung der Individuen und der betroffenen Welten in Raum und Zeit) A tun müßte. Daraus folgt, daß >man müßte A tun< paraphrasiert werden kann durch >Ich schreibe hiermit zwingend vor, als Ausdruck meines ehrlichen Wunsches, daß jeder x-beliebige in jeder Situation, die die gleichen abstrakten Eigenschaften besitzt, A tut<. Ich habe aus diesen Prämissen, die kein vernünftiger Philosoph in Zweifel ziehen dürfte (und hier verdüsterte sich sein Gesicht für einen Augenblick bei dem Gedanken an einen bestimmten Kollegen, der sie unglücklicherweise in Zweifel gezogen hatte), das abgeleitet, was ich die >Goldene Regel der Ontethik< nenne, die in Ihrem Fall ganz besonders >relevant< ist, wie unsere Freunde aus Cambridge sagen:

Man soll jemanden nur dann auf eine bestimmte Weise behandeln, aber wirklich nur dann, wenn man bereit ist:

1. dasselbe in allen möglichen Welten zu tun,

2. hinzunehmen, daß dasselbe auch getan wird, wenn man selber der Patient bei der in Betracht gezogenen Operation ist.«

»In jeder möglichen Welt?« fragte Hortense.

»In jeder möglichen Welt, selbstverständlich. Das ist eine triviale Folge der Regel in der kondensierten Form, in der ich sie Ihnen vermittelt habe. Sie sehen sicherlich, liebes Kind, wie sich dies im vorliegenden Fall auf Ihre Magisterarbeit anwenden laßt, bei der ich, in dieser Welt hier, der >Patient< Ihrer Operation Fristverlängerung bin«, sagte er mit einem Lächeln.   - Jacques Roubaud, Die schöne Hortense. München 1992 (dtv 11602, zuerst 1985)

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