Ohrenphysiognomik  Beurtheilen wir die Größe oder Kleinheit des Ohrs beim Menschen im Allgemeinen, so kann es nicht fehlen, daß, womit auch schon die Aussprüche der alten Physiognomen übereinstimmen, eine gewisse Kleinheit des Ohrs ebenso entschiedenes Zeichen größerer geistiger Energie sei, als im Gegentheil das zu große Ohr einer geringen, ja selbst bei zugleich ungünstiger Kopfform, einer entschiedenen Fatuität. Ganz kleine Ohren (sie kommen in höherm Grade gewöhnlich nur im weiblichen Geschlecht vor) werden hingegen immer den Ausdruck einer gewissen Verkümmerung geben, und ebenso wenig als die zu großen, Zeugnis ablegen für höhere und edlere Entwicklungsfähigkeit des Geistes. Der rechte Maßstab für Länge des Ohrs ist jedenfalls die Länge der regelmäßig gebildeten Nase.

Von merkwürdiger Bedeutung ist übrigens die Zeichnung der innern Windung und des äußern Umfangs der Ohrmuschel, um somehr, da man die eigenthümlich gewundene Bildung derselben nicht betrachten kann, ohne darin eine Art von symbolischer Wiederholung des tief verborgensten und geheimnivollsten Organs des Gehörs, d. h. der Schnecke, zu finden, eines Organs, dessen besondere Formen zuverlässig von höchster Bedeutung sind für alle individuelle Auffassung der Welt des Klanges und der Töne, d. h. für eins der wichtigsten Mittel aller geistigen Entwickelung. - Es ist auch merkwürdig, wie gerade in dieser Beziehung selbst das menschenähnlichste Ohr der Thierwelt, nämlich das der Affen (Fig. 106), von einem reingebildeten menschlichen Ohr (Fig. 111) abweicht,

und welche mannigfachen Formen sodann zwischen diesen Extremen liegen können, von denen ich hier nur einige der absonderlichsten abbilde. - Im Allgemeinen hat die bisherige Physiognomik die Verschiedenheit der Ohren keineswegs sattsam aufgefaßt, und selbst Porta, in welchem sonst Vieles der Art aus den Alten zusammengetragen gefunden wird, ist in dieser Beziehung sehr dürftig; indes wird doch schon auch bei ihm auf die, wie von einem geschickten Bildhauer tief ausgearbeiteten Ohren (Fig. 111) (exsculptae aures) besonderer Werth gelegt und bemerkt, daß Menschen mit solchen Ohren der Lehre und Erkenntnis besonders zugänglich seien, während ein nicht ausgearbeitetes, d. h. in seinen Windungen weniger bestimmtes und mehr rundes Ohr (Fig. 107) den rohen und schwer zu belehrenden Menschen anzeige. Aufdem gefühle von dieser Wahrheit mag denn beruhen, was Winckelmann in seiner Kunstgeschichte bereits anführt, nämlich daß in antiken Bildwerken die Ohren mit besonderer Sorgfalt ausgebildet seien, dergestalt, daß allerdings die Beachtung einer solchen bessern Durchbildung dazu dienen könne, dasantike Kunstwerk derguten Zeit besser zu erkennen. - In Wahrheit erkennt man eine große Mannichfaltigkeit der besondern inneren Windungen des Ohrs, wenn man viele Köpfe vergleicht, und ich kannte einen Schullehrer, welcher ohne Kenntniß wissenschaftlicher Grundsätze, blos aus Erfahrung, die Fähigkeiten seiner einzelnen Schüler namentlich nach dem Bau der Ohren beurteilte und selten fehl griff. Um übrigens bei diesem Gebilde recht aufmerksam zu werden und Vergleichungen richtig anstellen können, muß man zuerst die einzelnen Erhöhungen und Vertiefungen der Ohrmuschel gehörig unterscheiden. Jedes anatomische Handbuch gibt darüber Belehrung, doch will ich hier an Fig. 111 gleich die wichtigsten Theile bezeichnen, um deren genauere Kenntnis zu erleichtern. a heißt also helix (Ohrkrempe), b ist der anthelix (Gegenkrempe des Ohrs), c die vordere Ohrklappe (tragus), d die hintere (antitragus), e das Ohrläppchen (auricula infima), f betzeichnet dann den Ausschnitt (incisura auris), welcher durch die Muschel g (concha) in den innern Gehörgang führt, und endlich  die Vertiefung h heißt die Kahngruppe (scapha). - In allen diesen Theilen nun finden vielerlei Varietäten statt, indeß sei hier nur im Allgemeinen darüber bemerkt, daß eben die normale Ausbildung aller Das darstellt, was oben das wohlausgebildete Ohr genannt wurde und welches gutes Zeugnis ablegt für die geistige Begabung. - Der Abweichungen natürlich sind unzählige: so wird z. B. die Ausglättung des helix am oberen Rande (wie Fig. 109 bei *) eine entschiedene Thierähnlichkeit darstellen. Die Alten bildeten so das Ohr des Faun, und etwas Faunisches im Charakter wird sich bei Menschen mit solchen Ohren oft entdecken lassen. So wird auch der plumpe rohe Ausschnitt des Ohrs (Fig. 109 **) den im musikalischen Sinne unbildsamen Geist bezeichnen, während größere in der Windung breit ausgebildete Ohren mit weitem Ausschnitt oft bei Menschen mit bedeutendem plastischen Talent (s. Fig. 113) vorkommen usw. - Um eine Abbildung nach dem Leben noch beizufügen, gebe ich hier nach den Todtenmasken das Ohr Mendelssohns (Fig. 112) und das Ohr des alten Bildhauers Director Schadow in Berlin, welchebeide zu dem oben Gesagten gute Belege darbieten.

  - Carl Gustav Carus, Symbolik der menschlichen Gestalt. Darmstadt 1962 (zuerst 1852)

 

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