Nullsummenspiel   Hier die Bilanz: Auf der einen Seite stehen die Dinge gut für mich. Ich bin frisch und gesund. Es hat mir physisch nichts geschadet. Hab das Gefühl, als sei ich bestens für das Leben ausgerüstet, als hätte ich Schwimmhäute für den Modder, als sei meine Faser besonders biegsam und zäh. Ich passe in die Welt, bin nicht fein. Meine Großmutter hat Mist gefahren. Auf der anderen Seite stehen lauter Minuszeichen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch auf der Welt soll. Ich bin keinem Mitmenschen unentbehrlich, stehe bloß so herum und warte, sehe derzeit weder Ziel noch Aufgabe vor mir. Ich habe lebhaft an ein Gespräch denken müssen, das ich einmal mit einer klugen Schweizerin durchfocht, und bei dem ich, gegen alle Weltverbesserungspläne, auf meinem Satz beharrte: »Die Summe der Tränen bleibt konstant.« Ganz gleich, unter welchen Fahnen und Formeln die Völker leben; ganz gleich, welchen Göttern sie anhängen und welchen Reallohn sie beziehen: die Summe der Tränen, der Schmerzen und Ängste, mit denen ein jeder für sein Dasein zahlt, bleibt konstant.  - Anonyma, Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Berlin  2005 (zuerst 1954)
 
 

Bilanz

 

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