november Von allen Monaten ist der November der schönste, die Blätter fallen von den Bäumen, der Mensch steht ganz im Bereich des Todes und des Sterbens, um halb fünf Uhr nachmittags dämmert es bereits schön, und morgens um halb acht ist es noch dunkel, im Morgennebel, der den Charme des Krepierens noch verstärkt, gingen in alten Zeiten die Gläubigen zur Roratemesse, Spleen und Melancholie schleppen sich durch den Eisregen, das Weiß des Schnees läßt die laublosen Bäume als Gerippe erscheinen, schön ist auch die Zeit im Dezember, dann wird es noch schlimmer, und wenn St. Martin im November auf einem weißgescheckten Roß angeritten kommt, so ist der freigebige St. Nikolaus der Lichtblick im Dezember, und dann werden bereits für Weihnachten die Ingwerplätzchen und Kekse und Lebkuchenrädchen gebacken, das Geschenkfieber überdeckt alle Unwetter, und plötzlich ist da mitten im Winter und im Schmutz die kosmische Geburt des Christkindes, diese große Hoffnung, die die Neujahrsnacht um ein Haar kürzer macht, und dann sind die Schlachtfeste da und Mariä Lichtmeß, die die Nacht um zwei Haar kürzer werden läßt, und dann ist Fasnacht und der Matthäus-Jahrmarkt, da zeichnet sich im Kalender bereits ab, wann Ostern sein wird, der Weiße Sonntag und die Auferstehung, und da blühen schon längst die Salweiden und die Espen in Form von Kätzchen und langen Fasern und Fransen, dann kommt die Zeit des Säens und der Hexen und des Feuers, und dann auf einmal die Veilchen und die Maiglöckchen, da ist der Nieswurz bereits verblüht, und völlig unverhofft sind mitten in meiner Sehnsucht der Mai und die Frühlingsüberschwemmungen gekommen, und dann beginnt die Zeit, da man sich auf den Urlaub vorbereitet und Schlange steht, um Devisen zugeteilt zu bekommen, die Ungewißheit, ob man eine Ausreisegenehmigung erhält, dann kommt die Zeit der Rückkehr aus den Ferien, schon ist man wieder stinksauer, daß es Winter wird, und so sitze ich mitten im November da und freue mich an allen Phasen des Jahres, die ich wie Telefonnummern einstelle, auf dem gleichen Apparat, der gleichen zahlenverzierten Scheibe, denn je weiter wir uns entfernen, desto näher kehren wir zurück, um wieder an derselben Stelle zu stehen. Einst bin ich geflohen, bin vor mir selbst davongelaufen und davongefahren wie ein verrückter Motorradfahrer, der in den eigenen Schatten hineinrasen will, weil ich vergessen hatte, daß ich mich in meinen eigenen Schatten hineinlegen werde, wenn ich sterben, wenn ich schlafen, wenn ich anfangen werde, nicht mehr zu sein ...   - (hra2)

November (2)  Erster November heute, sagt Monsieur Traum, große Schwierigkeiten mich auf den Beinen zu halten, Versuchung wieder ins Bett zu gehen, widerstehen wir, nochmals schlafen taugt nichts, Bedürfnis nach einem klaren Gedanken um den Tag gut durchzustehen. Wir leben nicht mehr in der Zeit der vieldeutigen Überraschungen, ich begreife mich, es geht darum, meinem Grauen vor der Stille Form zu geben, Chronik der Nichtigkeiten die anderswo gemurmelt werden, mich nicht mehr fragen wo, das Ohr von einst war zu gefällig, ich habe dieser Neigung mich für einen andern zu halten den Krieg erklärt, nehmen wir unsere Unzulänglichkeit auf uns.

Note sehr gut, weiter. - (rp2)

November (3, südlicher)  Dienstag, 28. November 1972

Der Schrecken und auch die Traurigkeit, der von den verstaubten, zerfressenen antiken Ruinen ausgeht (Säulenreste, Torbogen, Statuen, Amphitheater, Grundrisse) liegt darin, daß bis heute nicht weitergefunden worden ist.

Die schnurrende Katze auf dem Sessel, abends, schwarz-weiß gefleckt.

Mittags eine Blut verkrustete Katze im Sonnenlicht, tiefe Wunden an der Seite, und ein Auge, das ausgelaufen war. (Dazu eine weiße Katze mit löchrigem Fell, struppige kranke graue Katzen, und fette gelbe kräftige Katzen daneben, gleichgültig, sich im Sonnenlicht wärmend.)/Mich befiel beim Vorübergehen ein Grauen beim Anblick. Auch Mitleid.

Jahnns Fluß Ohne Ufer, Teil 2 ausgelesen (und plötzliche Schübe einer Traurigkeit, als ich in der Küche saß, ein rauhes, trockenes Weinen, worüber? Warum?/Auf dem feinmaschigen grünen Fliegengitter vor dem Fenster die Schattenzeichnungen der Blätter und Äste, dazwischen helle, blendende Sonnenrisse).

Öde und Gleichgültigkeit des Angestelltenwesens im Göthe-Institut. (Vertrocknete deutsche Beamten-Atmosphäre.)/(So stellen sie sich Kultur vor.)

Eintrittsgelder, etwa 10 DM, und Platzkarten bei katholischen Messen im Vatikan, die der Papst zelebriert (ekel als ich das hörte, und grinsen)/Fotografieren ist verboten/Billigstes Show-Business.

Fotografieren verboten: katholische Schulen und Halb-Verrückten-Asyle (wenn es mal brenzlig für sie wird, brauchen sie einfach nur diese Asyle zu öffnen und die harmlosen Irren auf die Straße schicken, zum Beweis ihrer Rechtfertigung mittels Schrecken), ebenso verboten in Nähe militärischer Kasernen und Anlagen zu fotografieren.

Die rumwühlenden Paare im Dunkeln der an der Seite der Villa Massimo abends geparkten Klein-Wagen (ein so häßlicher, grauer und muffiger Anblick, beim Vorübergehen, nicht die Spur Zärtlichkeit ist vorstellbar).

Winterliche klare Kälte, ein kalk-weißer Sichelhalbmond, Sterne, hoher Himmel, Erinnerungen an die lautlosen, und wie mir vorkommt, grenzenlosen ländlichen Winter in Vechta, sekundenlang, mit kleinen Atemwölkchen vor dem Mund.

Nachts durcheinandergehende Trieb-Vorstellungen, vom Sperma-He rausspritzen, Ejaku-lation, aber das war morgens, als ich mich wirr erinnerte, nicht erkennbar an irgendwelchen Flecken, im Bett, auf dem Laken, oder verklebtem Schamhaar (was hatte ich geträumt? Es hing mit Fotos zusammen.)

Die Erfahrung, wieder, allein zu sein, auch mit Schrecken durchsetzt, nämlich die totale Verlassenheit des Körpers in unserer Welt (die Solidaritätsfasler wissen nicht, wovon sie sprechen: Solidarität der Schmerzen, der Einsamkeit?)

Auch Empfinden einer hilflosen und heillosen Ungeschicklichkeit bei mir, in mir, die ich feststelle.

Mußte mir 5Tausend Lire leihen bis zum ersten Dezember (unangenehm).

Plötzliche Einbrüche: was weiß ich überhaupt? Was kann ich? (Nicht einmal die gepanzerte selbstverständliche Dickfälligkeit habe ich, ein Buch das geschrieben ist von mir hinzunehmen, oder einfach zu schreiben und es dabei bewenden zu lassen.)  - (rom)

November (4)  Heute habe ich im de la Caille etwas über die Theorie der Kometen nachgelesen; als ich mich etwas ermüdet fand stützte ich mich auf meinen Tisch, weil dieses die Lage ist in welcher ich gemeiniglich an mich selbst denke, so nahmen meine Gedanken jetzo diesen Zug wieder. In den Gedanken gibt es gewisse Passat-Winde, die zu gewissen Zeiten beständig wehen, und man mag steuern und lavieren wie man will, so werden sie immer dahin getrieben. Bei solchen November-Tagen, wie die jetzigen, streichen alle meine Gedanken zwischen Melancholie und Selbst-Verkleinerung hin, wenn übrigens kein besonderer Strom mich seitwärts treibt, und ich würde oft mich nicht mehr zu finden wissen, wenn nicht die beiden Kompasse, Freundschaft und Wein mich lenkten und mir Mut gäben against a sea of troubles zu kämpfen. Mein Verstand folgte heute den Gedanken des großen Newton durch das Weltgebäude nach, nicht ohne den Kitzel eines gewissen Stolzes, also bin ich doch auch von dem nämlichen Stoff, wie jener große Mann, weil mir seine Gedanken nicht unbegreiflich sind, und mein Gehirn-Fibern hat die jenen Gedanken korrespondieren, und was Gott durch diesen Mann der Nachwelt zurufen ließ wird von mir gehört, da es über die Ohren von Millionen unvernommen hinschlüpft. An diesem Ende folge ich der ehrwürdigen Philosophie, während als am ändern Ende zwo Aufwärterinnen (die Stella mirabiüs und der Planet) eben diesen Verstand, der sich so über die Erde zu schwingen glaubt, in einem Winkel nicht einmal für wichtig genug halten, allen ihren Witz gegen Ihn zu gebrauchen, sondern, ohne ihn erst unter den focum desselben zu bringen, schon mit seinem gemeinen Licht schmelzen. Die Einbildungskraft, mit welcher ich der subtilsten Wendung einer Wielandischen Beschreibung folge, mir selbst meine eigene Welt schaffe durch die ich, wie ein Zauberer, wandele, und die Körner eines kleinen Leichtsinns in ganze Gefilde geistiger Luft aufblühen sehe, diese Einbildungskraft wird oft von einer fein gebogenen Nase, von einem aufgestreiften gesunden Arm in ihrem schnellsten Schwung so heftig angezogen, daß von der vorigen Bewegung nicht ein flüchtiges Zittern übrig bleibt. So hänge ich in der Welt zwischen Philosophie und Auf Wärterinnen-Lift, zwischen den geistigsten Aussichten und den sinnlichsten Empfindungen in der Mitte, taumelnd aus jenen in diese bis ich nach einem kurzen Kampf zur Ruhe meines beiderseitigen Ichs dereinst völlig geteilt hier faule und don in reines Leben aufdunsten werde. Wir beide, Ich und mein Körper sind noch nie so sehr zwei gewesen als jetzo, zuweilen erkennen wir einander nicht einmal, dann laufen wir so wider einander daß wir beide nicht wissen wo wir sind.   - (licht)

Winter Monat
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