Nichtverstehen  »Nie passiert das, was passieren könnte!« Ich kann nicht begreifen, warum die Menschen so wenig individuell sind, warum sie sich so gleichförmig kollektiv verhalten. Man denke nur an eine so einfache Sache wie aus Spaß Züge zum Entgleisen zu bringen! Man stelle sich die Tausende von Schienenkilometern vor, die in Europa, Amerika und Asien die Erde bedecken! Welch geringfügigen Prozentsatz bilden doch die, die ihre Leidenschaft, Züge zum Entgleisen zu bringen, je in die Tat umsetzen, im Vergleich zu denen, die eine Leidenschaft fürs Reisen haben! Als man den Eisenbahnsaboteur Maruschka in Ungarn schnappte, sah man darin ein sensationelles, einzigartiges Ereignis.

Ich kann nicht begreifen, warum der Mensch so wenig phantasiebegabt ist. Ich kann nicht verstehen, warum Omnibusfahrer nicht hin und wieder den Wunsch haben, durch das Schaufenster eines Warenhauses zu rauschen, um ein paar Spielsachen für ihre Frauen mitgehen zu lassen und die zufällig anwesenden Kinder zu erfreuen.

Ich verstehe nicht, ja, ich kann nicht verstehen, warum die Hersteller sanitärer Anlagen in den von ihnen produzierten Spülkästen nicht versteckte Bomben anbringen, die explodieren, wenn gewisse Politiker die Kette ziehen.

Ich kann nicht verstehen, warum Badewannen fast immer die gleiche Form haben; warum man nicht kostspieligere Taxis erfindet, die innen mit einer Berieselungsanlage ausgestattet sind, so daß der Fahrgast beim Einsteigen seinen Regenmantel anziehen muß, während das Wetter draußen schön und sonnig ist. 

Ich verstehe nicht, daß man mir, wenn ich im Restaurant einen gegrillten Hummer verlange, nie ein gekochtes Telephon serviert; ich verstehe nicht, warum Champagner stets eisgekühlt ist, Telephone hingegen, die sich gewöhnlich so schrecklich warm und unangenehm klebrig anfühlen, nicht auch in silberne Kübel mit zerstoßenem Eis gesteckt werden.    - (dali)

Nichtverstehen (2)   sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen; so sind sie wie taube, das sprichwort bezeugt's ihnen: »anwesend sind sie abwesend. «  - Heraklit, nach: Hans Magnus Enzensberger, Landessprache. Frankfurt am Main 1969 (es 304, zuerst 1960)

Nichtverstehen (3)  Was Degas angeht, so äußerte er sich stets sehr nett über Mallarmé, aber vorzüglich über den Menschen. Das Werk erschien ihm als eine Frucht sanften Wahnsinns, dem der Geist eines zaubrisch begabten Dichters zum Opfer gefallen. Solche Verkennungen sind zwischen Künstlern nicht selten. Es ist leicht einzusehen, daß es ihrem Wesen angemessener ist, sich gegenseitig — nicht zu verstehen. - (deg)

Nichtverstehen (4)

Nichtverstehen (5)  Die schöpferische Entwicklung - in diesem Werk von Henri Bergson, zu dem ich ebenso natürlich kam wie zu dem Traum von dem Land jenseits der Grenze, finde ich wieder dieses Gefühl völligen Alleinseins, völliger Entfremdung, wieder bin ich ein Mensch unbestimmten Alters, der auf einer eisernen Brücke steht und eine seltsame, äußere und innere Verwandlung beobachtet. Wäre mir dieses Buch nicht genau in dem Augenblick in die Hände gefallen, hätte ich vielleicht den Verstand verloren. Es kam in einem Augenblick, als eine andere große Welt mir unter den Händen zerfiel. Selbst wenn ich das Geringste, was in diesem Buch geschrieben stand, verstanden hätte, wenn ich nur die Erinnerung an das einzige Wort schöpferisch bewahrt hätte, würde das völlig genügen. Dieses Wort wurde mein Talisman. Mit ihm konnte ich der ganzen Welt und besonders meinen Freunden Trotz bieten.

Es gibt Zeiten, wo man mit seinen Freunden brechen muß, um den Sinn der Freundschaft zu verstehen. Das mag merkwürdig klingen, aber die Entdeckung dieses Buches war gleichbedeutend mit der Entdeckung einer Waffe, eines Handwerkszeugs, mit denen ich alle Freunde, die mich umgaben und die mir nichts mehr bedeuteten, von mir abtun konnte. Dieses Buch wurde mein Freund, denn es lehrte mich, daß ich keine Freunde brauchte. Es gab mir den Mut, allein zu stehen, und lehrte mich, Einsamkeit zu schätzen. Ich habe dieses Buch nie verstanden; manchmal glaubte ich es zu verstehen, aber es gelang mir nie wirklich. Es war wichtiger für mich, es nicht zu verstehen. Wenn ich dieses Buch in der Hand hielt und meinen Freunden laut daraus vorlas, ihnen Fragen stellte und Erklärungen gab, wurde mir klar, daß ich keine Freunde hatte und daß ich allein auf der Welt war. Denn da weder ich noch meine Freunde den Sinn der Worte verstanden, wurde eines sehr klar, nämlich daß es verschiedene Arten des Nichtverstehens gab und der Unterschied zwischen dem Nichtverstehen des einen und dem Nichtverstehen des anderen eine Welt festen Bodens schuf, die sogar noch fester war als die Unterschiede des Verstehens. Alles, was Ich vorher zu verstehen geglaubt hatte, zerbröckelte, und ich blieb mit einer leeren Schiefertafel zurück. Meine Freunde dagegen verschanzten sich fester in dem kleinen Graben des Verstehens, den sie für sich ausgehoben hatten. Sie starben behaglich in ihrem kleinen Bett des Verstehens, um nützliche Bürger der Welt zu werden. Sie taten mir leid, und einen nach dem anderen gab ich sie ohne das geringste Bedauern auf.   - (wendek)

 

Verstehen

 

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