Nichtexistente  Ich frage mich, ob auch ich, wenn es einen Sumpftod gibt, einmal auf diesem alles in allem recht hübschen Friedhof begraben sein werde; aber begraben von wem? Denn ich habe noch nie jemanden gesehen, der taugliche Glieder für ein so trauriges aber feierliches Geschäft besäße. Aber - um dieses Spiel, das ja auch weitgehend verbal ist, fortzusetzen: ich habe gemerkt, daß ich vorhin nicht Grabstätte gesagt habe sondern Kenotaph; und in der Tat, wenn man sich auf dem Grat zwischen Spiel und Schicksal bewegt, dann könnte dieser Ort - der schließlich der Isotop des Labyrinths ist - zwar ein Friedhof sein, also mit Gräbern bestückt, aber mit leeren Gräbern, auch wenn jedes davon für irgendeinen Pseudototen bestimmt ist; ich kann in keiner Weise sicher sein, daß meine sogenannten Vorgänger tatsächlich existiert haben; und ich kann phantasieren, daß sie Nichtexistente waren, und somit einen Nichttod erlitten haben, aber doch immer noch aus der Gattung der Tode, und daß ihnen deshalb ein Nichtgrab oder ein Disgrab oder ein Nullgrab zusteht, wie es im Jargon der Wissenschaftler oder Rhetoriker hieße. Aber könnte denn nicht auch ich die lind nachdenklichen Alleen eines Kenotaphs durchstreifen, in dem meine Vorgänger ruhen, oder besser, in dem ihre Eventualitäten - die puren MÖGLICHEN - in schönen, geschmückten, feierlichen aber nicht bedrohlichen Nullgräbern ruhen? Spärliche Blumen schmücken, wie es der Brauch ist, diesen den Gedanken an das Nichts geweihten Ort, jenes Nichts, das hier in der Idee des Kenotaphs zelebriert wird. Ich frage mich, ob auch ich von dieser Reihe inexistenter Vorgänger abstamme, ob also auch ich eine gewisse Neigung zum Nichtexistieren von ihnen geerbt habe, und ob deshalb auch mir eines Tages ein zarter, heiterer Kenotaph zusteht, und ich frage mich, an welcher Stelle mein Nullgrab denn wohl geplant sein könnte, und wo und in welcher Form ich es selbst planen würde, und male mir aus - spielerisch, aber nicht ohne pathetischen Ernst -, welche Form zu einem König von zweifelhafter Existenz passen würde, und ich frage mich, welche trauernden Nullen von Zeit zu Zeit kommen und sich um das Nullgrab versammeln würden, um zu meditieren - natürlich über das Nullsein, über das Nichts, über das Nichtexistieren und über das Sterben ohne Geborensein.  - Giorgio Manganelli, Der endgültige Sumpf. Berlin 1993 (zuerst 1991)
 
 

Nichtseyn

 

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