icht-Ich
 

Ein Mann geht vorbei
 

Ein Mann geht vorbei mit einem Brot auf der Schulter.
Wie soll ich da über mein Double schreiben?

Einer setzt sich hin, kratzt sich, fängt unterm Arm eine Laus,
bringt sie um. Was soll das Gerede über die Psychanalyse ?

Ein andrer ist mit einem Stock in meine Brust eingedrungen.
Soll ich mich vielleicht mit dem Arzt über Sokrates unterhalten?

Ein Holzbein kommt vorbei mit einem Kind an der Hand.
Was hilft es da, André Breton zu lesen?

Ein andrer zittert vor Kälte, hustet, spuckt Blut.
Ist da ein Hinweis auf das Ich an sich angebracht?

Noch einer sucht im Dreck nach Kartoffelschalen und Knochen.
Wie kann man da über das Unendliche schreiben?

Ein Maurer fällt vom Gerüst und hat seine letzte Semmel
gegessen. Und die Erneuerung der Tropik sowie der Metapher?

Ein Händler betrügt den Käufer um ein Gramm Gewicht.
Was soll uns das Geschwätz über die vierte Dimension?

Ein Bankier fälscht seine Bilanz.
Und da gibt es Gesichter, die weinen im Schauspielhaus.

Ein Paria schläft mit dem Fuß auf dem Rücken.
Sollen wir miteinander über Picasso reden?

Irgend jemand geht schluchzend zu einem Begräbnis.
wie ist es möglich, gewählt zu werden in die Akademie?

Einer putzt sein Gewehr in der Küche.
Welchen Wert hat es da, vom Jenseits zu sprechen?

Einer geht vorbei und rechnet mit seinen Fingern.
Ist es möglich, das Nicht-Ich zu erwähnen, ohne zu schreien?

  - César Vallejo, nach (mus)

Nicht-Ich (2)    Manchmal griff ich nach links ins Regal, wo immer in Reichweite Seuse steht. Schlug auf. Eine Predigt, in der ich, das wußte ich natürlich, Aufnahme fand. Und schlürfte die vor Unschuld brausende Seusesprache:

Vil lieben kynder, der diesen grunt allein erreichen kunde, der hette erreichet den aller nehisten, kurtzesten, slechsten, sichersten weg zu der höchsten nehisten warheit, die man yn der zyt ervolgen mag. Zu diesem enist nyemant zu alt noch zu kranck, noch zu dump, noch zu jung, noch zu arme noch zu riche, das were: Non sum, ich inbyn nicht. Ach, was lyt unsprechlich wesen an diesem Non sum! Ach, diesen weg enwil nyemant wanderen, man kere war man ummer kere! Got segen mich, enttruwen, wir syn und wollen und wolden ye syn, ye einer über den andern. Hie myt synt alle menschen also gefangen und gebunden, das sich nyemant lassen enwil; ime were lichter Zehen wercke dann eyn gruntlich lassen.

Bis zum Nichtsein sich lassen, sich Nicht-Ich sein lassen, bis daraus Ichsagen gelernt wird, wenn man Fichte heißt, und als Goethe und Nietzsche dann ernten. Nichts als Sprache gründet diesen Weg, aber nachher fühlt es sich an, als sei man ihn wirklich gegangen.   - Heinrich Seuse, nach: Martin Walser, Tod eines Kritikers. Frankfurt am Main 2002

 

Ich

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Außenwelt
Synonyme