Neurotiker   Das Bild, wie Kronski, zusammengekauert gleich einem kranken Ziegenbock, dalag, kam mir ausgesprochen komisch vor. Er hatte zu viele leere Blechbüchsen verschluckt. Er hatte sich von weggeworfenen Autoteilen ernährt. Er war ein wandelnder Friedhof von Tatsachen und Zahlen. Er starb an statistischer Verdauungsstörung.

«Weißt du, was du tun solltest?» sagte ich ruhig.«Du solltest dich umbringen - jetzt, noch heute abend. Du hast nichts, für das es sich zu leben lohnt - warum machst du dir etwas vor? Wir verlassen dich in Bälde, und du schaffst dich ganz einfach aus der Welt. Du bist doch ein cleverer Knabe, du wirst schon einen Weg wissen, ohne der Nachwelt allzuviel Scherereien zu machen. Wirklich, ich finde, du schuldest das der Welt. So wie die Dinge sind, machst du dich nur zu einem Ärgernis

Diese Worte hatten eine fast elektrisierende Wirkung auf den leidenden Dr. Kronski. Mit einer delphinartigen Bewegung sprang er auf die Füße. Er klatschte in die Hände und tanzte einige Schritte mit der Unbeholfenheit eines lahmen Dickhäuters. Er war entzückt - in der Art, wie ein Kanalarbeiter in Entzücken gerät, wenn er erfahrt, daß seine Frau noch einen Balg geboren hat. «Also, Sie wollen, daß ich mich umbringe, Mister Miller, ja? Wozu diese Hast? Du bist eifersüchtig auf mich, nicht wahr, aber diesmal muß ich dich enttäuschen. Ich bleibe am Leben und werde dir zusetzen. Ich werde dich quälen bis aufs Blut. Eines Tages wirst du zu mir kommen und mich um ein Mittelchen bitten, um der ganzen Misere ein Ende zu machen. Auf Knien wirst du mich darum bitten, und ich werde es dir abschlagen.» «Du bist verrückt», sagte ich und kitzelte ihn unterm Kinn. «O nein, absolut nicht!» erwiderte er und tätschelte meine kahle Birne. «Ich bin nur ein Neurotiker - wie alle Juden. Ich werde mich nie umbringen, täusch dich da nicht. Ich werde vielmehr deinem Begräbnis beiwohnen und über dich lachen. Vielleicht bekommst du gar kein Begräbnis. Vielleicht bist du bis dahin so bei mir verschuldet, daß du mir deinen Leichnam vermachen mußt, wenn du stirbst. Mister Miller, wenn ich erst einmal Sie seziere, bleibt keine Krume von Ihnen übrig.»

Er ergriff einen Brieföffner, der auf dem Klavier lag, und drückte mir die Spitze aufs Zwerchfell. Er beschrieb eine imaginäre Einschnittlinie und schwang das Messer vor meinen Augen.

«So werde ich beginnen», sagte er, «in deinen Eingeweiden. Zuerst werde ich allen diesen romantischen Unsinn herauslassen, der dich glauben läßt, du führest ein verzaubertes Leben. Dann werde ich dich abhäuten wie eine Schlange, um an deine ruhigen, friedlichen Nerven zu gelangen und sie zucken und schnellen zu lassen. Du wirst unter dem Messer lebendiger sein, als du es im Augenblick bist. Du wirst komisch aussehen, mit einem Bein dran und einem ab und deinem Kopf auf meinem Kaminsims, dein Mund in einem ständigen Grinsen erstarrt.»

Er wandte sich an Mara. «Glauben Sie, daß Sie dann noch verliebt in ihn sein werden, wenn ich ihn fürs Labor herrichte?»   - Henry Miller, Sexus. Reinbek bei Hamburg 1980 (zuerst 1947)

 

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