euanfang   1788 stand der Arzt und Wissenschaftler Franz Anton Mesmer mit 55 Jahren an einem Scheideweg. Er war ein Pionier des animalischen Magnetismus — der Überzeugung, daß den Körpern von Lebewesen magnetische Kräfte innewohnen, die der Arzt oder Spezialist zu Heilzwecken nutzen könne. Doch in seiner Heimatstadt Wien hatten ihm seine Theorien nur Hohn und Spott von den etablierten Medizinern eingebracht. Mehrere Frauen, behauptete Mesmer, hatte er von Krämpfen geheilt, am stolzesten war er aber darauf, daß er einem blinden Mädchen die Sehkraft wiedergegeben hatte. Ein anderer Arzt jedoch, der das junge Mädchen untersuchte, sagte, sie sei genauso blind wie zuvor, und dem stimmte das Mädchen auch zu. Mesmer behauptete, seine Feinde wollten ihn verleumden, sie hätten das Mädchen auf ihre Seite gebracht. Doch damit machte er sich nur noch lächerlicher. Eindeutig waren die nüchtern denkenden Wiener das falsche Publikum für seine Theorien, also beschloß er, in Paris noch einmal von vorn anzufangen. - (macht)

Neuanfang (2)  Man hat schon häufig genug anerkannt, daß neue Zustände und neue Relationen zwischen den Menschen ausschließlich durch einen völligen inneren Wandel erreicht werden könnten. Das ist bei gleichzeitiger Bindung an die vorhandene Gesellschaft und Wirtschaft nicht möglich. Selbst wenn jemand nur ein Christ sein wollte, der das Prinzip »Du sollst nicht töten« durchführen will, so wird er eingesperrt. Abgesehen von der Frage, daß die absoluten Erbrechte des einzelnen geregelt werden müssen, muß jede bestehende Gesellschaft auch bereit sein, Lizenzen auszugeben an diejenigen, die endgültig »Isolierte« (und nicht im Irrenhaus) sein wollen.

Man sieht, daß selbst die geringsten Voraussetzungen für Neubildungen in der heutigen Gesellschaft nicht gegeben sind, und die berühmten Majoritäten werden auch nicht zulassen, daß Gesetze solcher Art jemals eingebracht werden. Welche Veränderungen die Natur mit dem Menschen vorhat, und an welchen Veränderungen er selbst vielleicht durch Widerstand gegen das Natürliche großen Anteil hat, ist schwer zu übersehen, aber solche Prozesse geschehen absolut ohne den Menschen, ohne sein Denken und nur in sehr langen Zeitläufen. Wir befinden uns in der Schwierigkeit, nach der die Voraussetzungen für Neubildungen kaum zu erreichen sind, während umgekehrt »der Ablauf der Dinge« eigentlich unsichtbar für den Menschen in sehr langen Zeiträumen weitergeht.  - Ernst Fuhrmann, Die Angst als soziales Problem. Nach (fuhr)

Neuanfang (3)  Manche glauben, im Verein mit anderen Irren, daß wir gar nicht auf der Welt sind, daß unsere Riesenväter uns in einen Narrenzug haben fallen lassen, aus dem man heraus muß, will man nicht als Reiterstandbild enden oder in einen vorbildlichen Großvater verwandelt werden, daß aber nichts verloren ist, wenn man nur endlich den Mut hat, zu verkünden, daß alles verloren ist und man von neuem anfangen muß, wie jene berühmten Arbeiter, die an einem Augustmorgen des Jahres 1907 feststellen mußten, daß sie den Tunnel durch den Monte Brasco in eine falsche Richtung gegraben hatten und daß sie mehr als fünfzehn Meter von der Stelle entfernt herauskommen würden, zu der hin die jugoslawischen Arbeiter von Dublivna aus gruben. Und was taten die berühmten Arbeiter? Die berühmten Arbeiter ließen ihren Tunnel, wie er war, stiegen ans Tages­licht herauf, und nachdem sie die Sache tage- und nächtelang in mehreren piemontesischen Kantinen besprochen hatten, fingen sie auf eigene Faust und auf eigenes Risiko an einer anderen Stelle des Brasco an zu graben, sie gruben sich vorwärts, ohne sich um die jugoslawischen Arbeiter zu kümmern, und nach vier Monaten und fünf Tagen hatten sie den südlichen Teil von Dublivna erreicht, zur nicht geringen Überraschung eines pensionierten Schullehrers, der sie vor seinem Haus in Höhe des Badezimmers auftauchen sah.  - (ray)

Neuanfang (4) Von einem wirklichen Neuanfang war nie die Rede, und das ist das wirkliche Erbe der Nazis, dass das, was sie verbrochen haben, einfach nicht aufhört, über ihr eigenes Ableben hinauszuwirken.

Einen wirklichen Neuanfang sucht man in der Geschichte ohnehin vergebens. Man sucht ihn auch im Leben vergebens. Auch wenn einen manchmal ein Gefühl von Neuanfang überkommt, zum Beispiel nach dem Nasenbeinbruch oder bei jedem neuen Schreibheft, wenn der Füller auf der ersten Seite flüssig dahingleitet und das alte Heft mit den vielen Fehlern, Klecksen, durchgestrichenen Sätzen und herausgerissenen Seiten für immer im Ranzen verschwindet. Doch sobald die Seite umgeschlagen wird, ist es mit dem Neuanfang schon wieder vorbei. Fadenscheinig ist die Unterlage, mühsam kratzt die Feder über die Girlanden, die spiegelverkehrt von der ersten Seite durchschimmern. Und so ist es eben auch mit den Nazis, deren Hakenkreuze durch alles durchschimmern, durch jeden Backsteinbau, jede Autobahnbrücke, jeden Tannenwald, jeden Blick, jede Geste, jedes Wort. Ein Leben im Ungenügen, im Verworrenen. Durchstreichen, herausreißen und um halb sechs am hellerleuchteten Sportplatz vorbeilaufen, wenn der Petrolhimmel sich mit aufgequollenen Abendrotstreifen überzieht.

Die Sansculotten führten neue Monate ein, mit drei Wochen à 10 Tagen und Tagen mit zweimal zehn Stunden und dazu gleich neue Monatsnamen und Straßenschilder und Mützen für die Kirchtürme, damit die christlichen Insignien nicht länger stolz die Behausungen der Citoyens überragten. Doch es half alles nichts. Der Fachbegriff für den Grund dieses Scheitern lautet Prolepsis. Selbst wenn man es gut meint und den historischen Neuanfang mit einem kalendarischen Nullpunkt beginnen will, muss man notgedrungen auch das datieren, was diesem Nullpunkt vorausgeht. Datiert man es nicht proleptisch, müsste man sagen: Am 7. Mai 1945 hatten die Nazis noch nicht kapituliert, aber am 1.1. des Jahres null schon. Das wäre verwirrend, denn man wüsste nicht genau, ob das Datum 1.1.0 direkt auf den 7. Mai 1945 folgt. Datiert man jedoch, wie im Normalfall, proleptisch, dann spricht man eben anachronistisch von einer Zeit, die dem Neuanfang vorausgeht. Indem man jedoch die Daten kalendarisch auf eine Linie setzt, nimmt man dem Neuanfang das Neue, denn nun sieht es aus, als habe die Zeit davor den Neuanfang quasi vorbereitet, als verdanke sich der Neuanfang den Nazis und sei am Ende sogar im Sinn der Nazis, so wie alle Religionen aus der teleologischen Sicht des Christentums allein Vorstufen des Christentums sind und sich in ihm erfüllen. Der Neuanfang wird damit zu einer furchtbaren Bürde, die von zwei Seiten chronologisch einzementiert nie mehr einen wirklichen Neuanfang zulässt. - (raf)

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