Nervensache    »Die Leute reißen doch immer das Maul auf. Aber ich habe zu denen gesagt: >Wenn ein Mädchen nein sagt, darf man es nicht zwingen.<«

Der Rabbi umklammerte seinen Bart, ließ ihn aber gleich wieder los. »Wir haben sie nicht gezwungen, Gott soll schützen! Aber sie ist sehr reizbar, genau wie ihre Mutter. Nerven sind eine Krankheit. Man verliert die Fassung und tut Dinge, die man später bereut. Früher nannte man das, vom Bösen in Versuchung geführt werden. Der Talmud sagt, daß der Mensch nur dann sündigt, wenn ein törichter Geist in ihn gefahren ist. Aber es gibt ja die freie Entscheidung, und man kann alles überstehen, wenn man den Willen dazu hat. Die Ärzte haben das Sündigen als Nervensache bezeichnet, und nun erklären sie, daß man wegen einer Krankheit keine Buße tun muß. Aber das ist ein Irrtum. Dann wäre ja, wenn man nicht imstande gewesen ist; seinen Zorn zu bezähmen, der Zorn keine Sünde.«

»Ja, Rebbe. Aber es ist doch möglich, daß jemand einen Wutanfall bekommt und sich einfach nicht mehr beherrschen kann. In der Stadt, in der ich lebe, gab es einen spanischen Goi, der verheiratet war und eine Mätresse hatte. Seine Frau kam dahinter und fing an, auf ihm herumzuhacken. Seine Mätresse hatte ebenfalls Kinder von ihm. In diesen Ländern ist das gang und gäbe. Kurz und gut, die Nörgelei seiner Frau ging ihm derart auf die Nerven, daß er sein Gewehr von der Wand nahm und sie mitsamt den Kindern erschoß. Dann ging er zu seiner Mätresse und richtete das gleiche Blutbad an. Die fünfjährige Tochter, die sich unter dem Bett versteckt hatte, war die einzige Überlebende. Danach wollte er sich ebenfalls erschießen, aber das Gewehr hatte eine Ladehemmung, und er landete im Gefängnis.« Der Rabbi runzelte die Stirn.

»Wurde er gehenkt?«

»Nein, er wurde in eine Irrenanstalt eingewiesen.«   - Issac Bashevis Singer: Max, der Schlawiner. Berlin 2011

Reizbarkeit

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