ebenzimmer Im Nebenzimmer wohnt ein jüdischer Untermieter. Zwangseingewiesen seit wenigen Wochen. Gestern hat man ihm den Evakuierungsbrief zugestellt. Wir sitzen und sticheln. Im Nebenzimmer wandert es auf und ab. Sechs Schritte nach rechts, sechs Schritte nach links. Ruhelos, pausenlos, immer hin und her. »Was ist mit Herrn Erichsohn?« frage ich erstaunt. »Packt er nicht?« Die Umsitzenden senken verlegen die Augen. Hinter Frau Lehmann legt Jemand beschwörend den Finger an die Lippen. »Er will nicht rnehr mitmachen«, flüstert man mir zu. »Er hat sich anders entschieden.«
Im Nebenzimmer wandert es auf und ab. Sechs Schritte nach rechts, sechs
Schritte nach links. Ruhelos, pausenlos, immer hin und her. »Was
ist mit Herrn Erichsohn?« frage ich erstaunt. »Packt er
nicht?« Die Umsitzenden senken verlegen die Augen. Hinter
Frau Lehmann legt Jemand beschwörend den Finger an die Lippen.
»Er will nicht rnehr mitmachen«, flüstert man mir
zu. »Er hat sich anders entschieden.« Im Nebenzimmer
wandert es auf und ab. Sechs Schritte nach rechts, sechs Schritte
nach links. Im Nebenzimmer ... Barmherziger Gott! Im Nebenzimmer ...
Jetzt wird es dort still. Beängstigend still. Da stirbt doch ein
Mensch, denke ich voller Grauen. Wie dürfen wir ihn denn sterben
lassen! Nur dort; die Schiebetür! Wenn man sie aufmacht ...
Niemand öffnet die Schiebetür. Wir sitzen und sticheln. Im
Nebenzimmer stirbt ein Mensch. »Sie soll es nicht wissen«,
raunt man mir ins Ohr. » Sie hat schon genug auf der Seele.«
— »Und er ?« -»Er? Können Sie ihm Besseres
bieten?« Hinter der Schiebetür kämpft irgendein Herr
Erichsohn seinen Todeskampf. Einsam, rücksichtsvoll und diskret.
Morgen, wenn der Abholwagen weggefahren ist, wird man seine Leiche
finden. Jetzt lebt er noch. Lauscht vielleicht, mit verschwimmenden
Sinnen, dem Lärm der Stimmen, die zu ihm herüberdringen.
Wir reden laut und viel. - Ruth
Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Notat
vom 1. September 1942.
Frankfurt am Main 1987 (zuerst 1947)
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