aturphilosoph  Er hat unter anderem geprüft, wie stark die galvanischen Schläge sind, die man noch eben ertragen kann, und welche Empfindungen sie in den verschiedenen Körperteilen erwecken. Hierbei hat er sich nicht auf Hände, Augen, Nase und Mund beschränkt, sondern auch Körperteile galvanisch mißhandelt, die man sonst nicht zu Experimenten in Anspruch nimmt.

Neben diesen großen Vorzügen stehen freilich auch große Fehler. Als den Mann, der den größten Einfluß auf ihn gehabt hat, nennt Ritter Novalis, den Dichter, und nach ihm Herder. Von wissenschaftlichen Vorbildern meldet er nichts. Genoß er dadurch den Vorzug des durch eigene Kraft Emporgearbeiteten, daß seine Anschauungen nicht durch den Einfluß anderer beschränkt waren, so läßt er auch den Nachteil erkennen, den eine solche Entwicklung nur zu leicht mit sich bringt. Es fehlte ihm die Schulung des kritischen Denkens, welche mitten in der Freude des Schaffens sich immer wieder die Frage stellt: kann das Geschaffene auch die strenge Prüfung bestehen, ohne welche in der Wissenschaft nichts Bestand hat? Er verfügt über einen solchen Überschuß von Ideen, daß ihm nicht die Zeit bleibt, trotz fast übermenschlicher Anstrengung sie alle zur Ausführung zu bringen, und so gewöhnt er sich leider mehr und mehr daran, die Ideen für die Hauptsache und ihre Prüfung an der Erfahrung für entbehrlichen Ballast zu halten. Gegen das Ende seines Lebens ist dieser Zug bereits pathologisch geworden; Ritter erklärt, daß er im Besitze eines höheren Kalküls sei, der ihn der Arbeit im einzelnen enthebe und ihm höhere Einsichten der Natur verschaffe, als sie dem gewöhnlichen Physiker eigen seien.

Im höchsten Maße wird dieser verderbliche Zug durch eine mächtige Strömung jener Zeit unterstützt, welche nicht nur dies eine Opfer gefordert hat und unter deren Folgen die deutsche Naturwissenschaft noch ein halbes Jahrhundert gelitten hat. Es ist dies die Naturphilosophie unseligen Andenkens, jene Anschauung, nach welcher die Natur sich a priori durch die Tätigkeit der ›Vernunft‹ erkennen lasse, so daß alle physische Erkenntnis als bloße ›viehische‹ in den Hintergrund zu treten habe, wo jene höhere Stimme spricht.

Ritter war dieser geistigen Pest nicht von vornherein verfallen. Seine ersten Arbeiten lassen zwar mancherlei erkennen, was uns Naturphilosophie in jenem schlechten Sinne zu sein scheint, doch zeigt ein Vergleich mit zeitgenössischen Arbeiten, daß wir es hier wesentlich mit stilistischen Unarten zu tun haben, welchen fast alle Zeitgenossen huldigten. Der experimentelle Teil dieser Arbeiten ist noch mit Geduld —  zuweilen ganz außerordentlicher Geduld — ausgeführt,  die weitreichenden Schlüsse, die er aus ihren Ergebnissen zieht, haben fast alle mehr oder weniger später ihre Rechtfertigung durch die Erfahrung erhalten. Aber nach  nach macht sich, wohl gleichzeitig mit dem Fortschreiten der heimtückischen Krankheit, welcher er so früh zum Opfer fiel, eine Wendung zum Schlimmeren geltend. Immer schwülstiger wird der Stil, immer unvollständiger die Versuche und immer hastiger die Schlüsse, und zuletzt sehen wir den feinsinnigen Beobachter, der die verwickeltsten Erscheinungen der Nervenerregbarkeit bei dem zu seinen Versuchen dienenden Froschpräparat in einer Weise zu deuten wußte, die ein halbes Jahrhundert später den genauesten Kenner dieser Dinge, Emil du Bois-Reymond, zur Bewunderung hinriß, wir sehen diesen Mann Dinge behaupten, die der einfachste Versuch als irrtümlich erweist. Dieser Wandel fällt ungefähr mit der Zeit seiner Übersiedlung nach München zusammen, und die Verhältnisse, in welche er dort eintrat, waren nur zu geeignet, ihn in der Verirrung zu bestärken. Denn dort geriet er unter den unmittelbaren Einfluß des Schöpfers der Naturphilosophie, Schelling, und die Frucht dieses Einflusses erkennen wir in seinen dort betriebenen Bemühungen, der Lehre von der Wünschelrute, den Wasserfühlern und Erzsuchern eine wissenschaftliche Begründung zu geben. - Wilhelm Ostwald 1894, nach (rit)

Naturphilosoph (2)  »Nichts in der Welt will rückwärts gehen«, sagte mir ein alter Eidechs, »alles strebt vorwärts, und am Ende wird ein großes Naturavancement stattfinden. Die Steine werden Pflanzen, die Pflanzen werden Tiere, die Tiere -werden Menschen und die Menschen werden Götter werden.«

»Aber«, rief ich, »was soll denn aus diesen guten Leuten, aus den armen alten Göttern werden?«

»Das wird sich finden, Heber Freund«, antwortete jener; »wahrscheinlich danken sie ab, oder werden auf irgendeine ehrende Art in den Ruhestand versetzt.«

Ich habe von meinem hieroglyphenhäutigen Naturphilosophen noch manches andre Geheimnis erfahren; aber ich gab mein Ehrenwort, nichts zu enthüllen. Ich weiß jetzt mehr als Schelling und Hegel.

»Was halten Sie von diesen beiden?« frug mich der alte Eidechs mit einem höhnischen Lächeln, als ich mal diese Namen gegen ihn erwähnte.

»Wenn man bedenkt«, antwortete ich, »daß sie bloß Menschen und keine Eidechsen sind, so muß man über das Wissen dieser Leute sehr erstaunen. Im Grunde lehren sie eine und dieselbe Lehre, die Ihnen wohlbekannte Identitätsphilosophie, nur in der Darstellungsart unterscheiden sie sich. Wenn Hegel die Grundsätze seiner Philosophie aufstellt, so glaubt man jene hübschen Figuren zu sehen, die ein geschickter Schulmeister, durch eine künstliche Zusammenstellung von allerlei Zahlen, zu bilden weiß, dergestalt, daß ein gewöhnlicher Beschauer nur das Oberflächliche, nur das Häuschen oder Schiffchen oder absolute Sol-dätchen sieht, das aus jenen Zahlen formiert ist, während ein denkender Schulknabe in der Figur selbst vielmehr die Auflösung eines tiefen Rechenexempels erkennen kann. Die Darstellungen Schillings gleichen mehr jenen indischen Tierbildern, die aus allerlei änderen Tieren, Schlangen, Vögeln, Elefanten und dergleichen lebendigen Ingredienzen, durch abenteuerliche Verschlingungen, zusammengesetzt sind. Diese Darstellungsart ist viel anmutiger, heiterer, pulsierend warmer, alles darin lebt, statt daß die abstrakt hegelschen Chiffern uns so grau, so kalt und tot anstarren.«

»Gut, gut«, erwiderte der alte Eidechserich, »ich merke schon was Sie meinen; aber sagen Sie mir, haben diese Philosophen viele Zuhörer?«

Ich schilderte ihm nun, wie in der gelehrten Karawanserei zu Berlin die Kamele sich sammeln um den Brunnen hegelscher Weisheit, davor niederknien, sich die kostbaren Schläuche aufladen lassen, und damit weiterziehen durch die Märksche Sandwüste. Ich schilderte ihm ferner, wie die neuen Athener um den Springquell des schellingschen Geistestranks sich drängen, als war es das beste Bier, Breihahn des Lebens, Gesöffe der Unsterblichkeit. -

Den kleinen Naturphilosophen überlief der gelbe Neid, als er hörte, daß seine Kollegen sich so großen Zuspruchs erfreuen, und ärgerlich frug er: »Welchen von beiden halten Sie für den größten?« »Das kann ich nicht entscheiden«, gab ich zur Antwort, »ebenso wenig wie ich entscheiden könnte, ob die Schechner größer sei als die Sontag, und ich denke -«

»Denke!« rief der Eidechs mit einem scharfen, vornehmen Tone der tiefsten Geringschätzung, »denken! wer von Euch denkt? Mein weiser Herr, schon an die dreitausend Jahre mache ich Untersuchungen über die geistigen Funktionen der Tiere, ich habe besonders Menschen, Affen und Schlangen zum Gegenstand meines Studiums gemacht, ich habe soviel Fleiß auf diese seltsamen Geschöpfe verwendet, wie Lyonnet auf seine Weidenraupen, und als Resultat aller meiner Beobachtungen, Experimente und anatomischen Vergleichungen, kann ich Ihnen bestimmt versichern: kein Mensch denkt, es fällt nur dann und wann den Menschen etwas ein, solche ganz unverschuldete Einfälle nennen sie Gedanken, und das Aneinanderreihen derselben nennen sie Denken. Aber in meinem Namen können Sie es wiedersagen: kein Mensch denkt, kein Philosoph denkt, weder Schelling noch Hegel denkt, und was gar ihre Philosophie betrifft, so ist sie eitel Luft und Wasser, wie die Wolken des Himmels; ich habe schon unzählige solcher Wolken, stolz und sicher, über mich hinziehen sehen, und die nächste Morgensonne hat sie aufgelöst in ihr ursprüngliches Nichts; - es gibt nur eine einzige wahre Philosophie, und diese steht, in ewigen Hieroglyphen, auf meinem eigenen Schwanze.«

Bei diesen Worten, die mit einem dedaignanten Pathos gesprochen wurden, drehte mir der alte Eidechs den Rücken, und indem er langsam fortschwänzelte, sah ich darauf die wunderlichsten Charaktere, die sich in bunter Bedeutsamkeit bis über den ganzen Schwanz hinabzogen. - Heinrich Heine, Reisebilder: Italien, Die Stadt Lucca


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